Rotkäppchens Rache
starrte in den Spiegel. »Ich kann sie zwar nicht sehen, aber diese Wurzeln gehörten definitiv zum Steinwäldchen.«
»Das ist unmöglich! Selbst in vollem Galopp könnte sie nicht Rumpelstilzchen umgebracht und es so schnell zurückgeschafft haben!« Talia warf einen kurzen Blick auf den roten Rauch. »Bis du sicher, dass deine Magie richtig funktioniert?«
Schnee setzte Becher und Zettel ab und drehte sich um, sodass sie Talia ins Gesicht sah. »Du darfst es gerne einmal selbst probieren, wenn du meinst, du kannst es besser! Leider hat meine Mutter mir kein Buch mit Gebrauchsanweisungen für dieses Ding hinterlassen. Ich könnte den Rest meiner Tage damit zubringen, seine Geheimnisse zu entschleiern.«
»Wenn also Roudette versteckt ist, wie sieht es mit Charlotte aus?«
Schnee nahm Charlottes Zeh aus dem Kästchen und hielt ihn an den Spiegel. »Spieglein lass uns sehen, das Miststück mit neun Zehen.«
»Der gefällt mir!«, sagte Talia.
Der rote Rauch lichtete sich so weit, dass Danielles Stiefschwester zu erkennen war. Baumwurzeln so dick wie Talias Bein schlängelten sich an Charlottes Körper vorbei. Ihre Arme waren an den Handgelenken und Ellbogen gefesselt und die Fesseln an den Baumwurzeln festgeknotet. Ihre Beine waren ausgestreckt und an den Knöcheln gebunden. Am rechten Fuß trug sie einen blutgetränkten Verband.
»Da ist dein Beweis.« Schnee zeigte auf den Rauch, der am Rand des Bildes weiterhin tanzte und in Ringen hochstieg. »Roudette ist bei Charlotte, und zwar so nah, dass ihr Umhang meinen Spiegel beeinträchtigt.« Nachdenklich fügte sie hinzu: »Sie sieht furchtbar aus!«
»Steht ihr aber gut.« Charlottes bleiches Gesicht war dreckig bis auf die Stellen, wo Tränen den Dreck weggespült hatten. Ihre braunen Locken waren kurz und voller Knoten. Alte Narben um die Augen verunstalteten ihre einst glatte Schönheit. Sie trug nichts als ein zerrissenes, schmutziges Kleid, das ihr lose von den Schultern hing. Talia beugte sich dichter heran. »Was ist mit diesen Bäumen los?«
Schnee massierte sich den Hinterkopf. »Du musst wirklich mehr Zeit in der Bibliothek verbringen. Eine der frühesten Schlachten zwischen Elfen und Menschen wurde im Steinwäldchen ausgetragen. Die Dryaden schlachteten mehr als hundert Männer ab, bevor es unseren Zauberern gelang, die ersten Bäume zu versteinern. Als das Blatt sich zu unseren Gunsten wendete, änderten die Dryaden ihre Taktik und ließen ihre Bäume umkippen, sodass sie auf die Angreifer stürzten. Es heißt, die letzte Dryade sammelte die Samen ihrer Gefährtinnen auf und verschwand. Eines Tages, wenn ihre neuen Bäume herangereift sind, werden sie zurückkommen, um Rache an uns zu nehmen.«
Talia zuckte die Achseln. »Lass mich wissen, wenn sie alle groß sind, dann werde ich mich auch um sie kümmern.«
Charlottes Augen waren rund vor Angst und irrten ständig von einem Ort zum andern. Sie erinnerte Talia an ein verängstigtes Tier.
»Sie ist aus Elfstadt verschleppt, verstümmelt und auf einem Elfenfriedhof gefesselt worden«, stellte Schnee fest. »Ich glaube, man kann getrost sagen, dass sie nicht mit Roudette zusammenarbeitet.«
Talia drehte sich angewidert weg. Charlotte war eine grausame, selbstsüchtige Närrin, die sich in der Vergangenheit jedem angeschlossen hatte, von dem sie sich Macht erhoffte: ihrer Stiefmutter, ihrer Schwester Stacia, der Herzogin in Elfstadt. Wenn Roudette gefragt hätte, hätte Charlotte ihr höchstwahrscheinlich auch aus eigenem, freiem Willen heraus geholfen.
»Wie konnte Roudette es nur so schnell zurück schaffen?«, wunderte Talia sich. Sie liebäugelte mit dem Gedanken, dass Roudette einen Partner hatte. Roudette konnte jemand anders geschickt haben, um Lang und Rumpelstilzchen ins Jenseits zu befördern. Aber die Lady von der Roten Kappe arbeitete immer allein, und das Gemetzel war zu schnell, zu gründlich vonstatten gegangen.
»Zauberei«, vermutete Schnee. »Das wäre auch eine Erklärung dafür, weshalb es noch nie jemandem gelungen ist, sie zu fangen.«
Talia hüpfte vom Tisch. »Mach deine Sachen fertig! Ich denke, ich gehe noch ein paar weitere Messer einpacken.«
*
Als Schnee ein Kind war, pflegte sie die halbe Nacht aufzubleiben und bei dem Licht zu lesen, das sie vom Mond fing und in glatten Steinen aus dem Fluss speicherte. Heutzutage forderte ihr Körper mehr Nachtruhe. Ein kurzes Schläfchen war ihr vor dem Abendessen geglückt, aber das war nicht genug. Es war noch keine Stunde
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