Rotkäppchens Rache
Stadttore ebenso wie die uniformierten Männer auf der anderen Seite der Straße. Jeder, der versuchte, über den See zu schwimmen, würde sich schnell von erwartungsvollen Jaan umringt sehen, deren strahlende Körper den Eindringling beleuchteten, sodass ihn alle sehen konnten.
Nicht dass viele Leute sich wegen der südlichen Straße Gedanken machten: Sie war die am wenigsten bereiste der vier Straßen, die in den ärmsten Teil Jahrasimas führte. Das Torhaus war in schlechtem Zustand, genau wie die meisten Gebäude dahinter. Selbst von hier aus konnte Talia sehen, wo ein Haus unter dem Ansturm von Zeit und wuchernden Weinstöcken zerfallen war.
Zwei Männer traten ins Freie, als sie sich dem Torhaus näherte. Ihre Rüstung war leichter als die, die von ihren Gegenstücken in Lorindar getragen wurde. Aratheanische Krieger maßen Schnelligkeit und Geschicklichkeit mehr Bedeutung bei als Schutz, ganz zu schweigen von dem Tribut, den eine schwere Rüstung in der Wüstenhitze fordern konnte. Der eine trug einen kurzen Speer, der andere einen Streitkolben, eine kurze, schlanke Waffe mit Widerlager am hinteren Ende. Die Hiebwaffe war eine Ausführung aus dem Norden, die sich auch als Speerschleuder verwenden ließ und von allen Kriegern in Diensten Königin Lakhims geführt wurde.
Beide trugen grüne Schärpen mit dem königlichen Wappen. Der weiße Tiger war das Symbol der Familie Lakhims; der kleine Homa-Vogel, der über dem Tiger flog, war mehr als dreihundert Jahre lang das Symbol der Krone gewesen. Lakhim hatte den Homa-Vogel nicht aus ihrem Wappen entfernt, sondern ihn zu wenig mehr als einem nachträglichen Einfall verkleinert. Die grünen Berge im Hintergrund repräsentierten die Elfenrasse.
»Was ist dir passiert?«, fragte der mit dem Speer.
Talia fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, die noch von ihrem Kampf mit Roudette geschwollen waren. »Wolfsangriff.«
Der andere ging näher heran. »Geht es dir gut?«
»Wird schon wieder.« Talia tat, was sie konnte, um Angst vorzutäuschen. »Ich muss zum Tempel. Meine Freundinnen sind verletzt worden. Eine ist so übel zugerichtet worden, dass sie nicht mehr laufen kann.«
Sie verlagerte das Gleichgewicht, sodass sie jederzeit blitzschnell mit einer Hand ein Messer aus dem Ärmel ziehen könnte. Wenige hatten Dornröschen in natura gesehen, aber es schadete nie, vorbereitet zu sein.
»Was ist mit dem Wolf?«, fragte der mit dem Streitkolben. Er klang beinah begierig. Vermutlich erhoffte er sich eine Unterbrechung der langweiligen Routine, die das Wacheschieben im Armenviertel darstellte.
Talia schüttelte den Kopf. »Er wird niemanden mehr belästigen.«
Ihr Körper erinnerte sich an den Weg zum Tempel. Sie verließ die Hauptstraße, nahm eine Abkürzung durch eine enge Gasse und um ein altes Lagerhaus herum und kam schließlich auf einer Schotterstraße heraus. Unkraut und Kletterpflanzen pieksten ihr in die Beine und blieben an ihrer Hose hängen, als sie auf das niedrige, neunseitige Gebäude am Ende der Straße zuging.
Eine hüfthohe Steinmauer umgab die Tempelanlage. Die Mauer war in schlechtem Zustand und stellte wenig mehr als eine symbolische Barriere dar. Selbst von hier aus konnte Talia den Geruch nach Urin und Fäulnis der Kranken und Sterbenden wahrnehmen.
Ihr Herz hämmerte in der Brust, als sie weiterging, indem sie einem unbefestigten Weg durch das offene Tor folgte. Innen war die Anlage gepflegter. Rote Steine knirschten unter ihren Füßen. Zu beiden Seiten wucherten grüne Feigenbäume. Kleine Blumen und Kräuter wuchsen am Fuß der Tempelmauern. Drei jüngere Mädchen in den schwarzen Gewändern des Tempels kümmerten sich um die Gärten. Talia lächelte, als sie ihnen zusah, denn sie erinnerte sich an eine Zeit, als sie dasselbe getan hatte.
Eine alte Frau mit nur einem Bein lag schlafend im Schatten eines Feigenbaums. Ein Mann mit geschientem Arm spazierte durch den Hof; er neigte grüßend den Kopf und hüstelte dann höflich, um die Aufmerksamkeit der Gärtnerinnen auf Talia zu lenken.
Eins der Mädchen sprang auf und eilte auf den Weg, wo sie stehen blieb und eine halbe Verbeugung vollführte. »Willkommen im Tempel der Hecke. Mögest du in unseren Mauern Frieden und Gesundheit finden.«
Sowohl ihre Worte als auch ihre Bewegungen waren sorgsam bedacht und präzise, als müsste sie sich an die korrekte Begrüßung erinnern. Sie konnte nicht länger als einen Monat hier sein.
»Danke.« Talias Mund wurde trocken, als sie sich
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