Rotkäppchens Rache
Appetit war elfisch.
An der gegenüberliegenden Wand stand ein niedriger Schreibtisch. Nischen in den Steinen enthielten Schriftrollen und kleine Bücher. Fenster gab es keine, sodass der Raum ungeachtet seiner Größe beengt wirkte. In einem getriebenen Becken aus Kupfer in der Mitte des Zimmers glühten Kohlenstücke, die zu der stickigen Wärme noch beitrugen. Zweifelsohne war es hier für eine Schlange recht behaglich.
Uf’uyan schloss die schwere Holztür hinter sich und begab sich dann zu einem runden, mit Wolldecken ausgelegten Korb. Er rollte seinen Unterkörper in den Korb und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, während er Talia forschend betrachtete. Ein Wink seiner Hand ließ die Flammen im Kohlenbecken höherschlagen. »Du kommst mir bekannt vor.«
Talias Schwert schien in ihre Hand zu springen. »Ich war schon früher hier, vor Jahren, mit Schwester Faziya vom Tempel der Hecke.«
»Dann geben wir uns diesmal also nicht mit Feinheiten ab?«, fragte Schnee.
Uf’uyan warf einen flüchtigen Blick auf sie. Er schien sich keine Sorgen zu machen, aber wer konnte schon wissen, was im Kopf einer Schlange vorging? »Deine Freundinnen sind nicht aus Arathea, nicht wahr?«
Roudette riss sich den Hiqab so ungestüm vom Körper, dass der Stoff zerriss. Sie schob die Kapuze zurück und zog ihre eigene Waffe, den Hammer, den sie in der Luft wirbeln ließ. Der rote Umhang erntete einen längeren Blick Uf’uyans. »Keine Spielchen, Naga!«
»Ich erkenne dich«, sagte er. Diesmal konnte Roudette seine Angst riechen. Er neigte leicht den Kopf. »Werdet ihr mir vorher Zeit zum Beten zugestehen?«
»Ich bin nicht hergekommen, um Euch zu töten«, sagte Talia.
»Du vielleicht nicht.« Roudette ging auf den Elfenpriester zu. »Sag uns, wo wir Zestan-e-Jheg finden!«
»Sonst was?«, fragte Uf’uyan. »Willst du mich umbringen?« Er lachte. »Dann schlag zu, Rotkäppchen! Schicke mich in den Himmel zurück!«
Talia packte sie am Arm. »Noch nicht!« Als sie zwischen Roudette und Uf’uyan trat, sagte sie: »Faziya kam hierher, um nach der Wilden Jagd zu fragen. Was ist mit ihr geschehen?«
»Faziya war eine gute Frau«, sagte Uf’uyan. »Bis letzte Nacht interessierten sich nur wenige Leute für die Überfälle der Wilden Jagd auf die Kha’iida. Die sesshaften Stadtbewohner haben ihren Wüstenbrüdern den Rücken gekehrt. Viele waren der Jagd insgeheim dankbar. Sie hören Gerüchte über Kha’iida-Übergriffe, über gestohlene Kinder und ausgeraubte Karawanen, und sie fangen an zu glauben, dass Arathea ohne seine ›primitiven‹ Kinder des Sandes besser dran wäre.«
»Lügen!«, erwiderte Talia. »Kha’iida-Krieger pflegten benachbarte Stämme zu überfallen, aber nur, um ihre Geschicklichkeit zu schulen und ihre Überlegenheit ihren Nachbarn gegenüber zu beweisen. Worin soll die Herausforderung liegen, wenn man eine Karawane mit verwöhnten, verweichlichten Händlern überfällt?«
Uf’uyan betrachtete Talia genauer. »Wie alle Dinge hat sich auch der Platz der Kha’iida geändert, insbesondere in den letzten Jahren. Aber du erinnerst dich an diese Zeiten, nicht wahr, Prinzessin? Ich hätte wissen müssen, wer du bist, als ich dich gerochen habe; der Fluch haftet deinem Blut noch an.«
Talia winkte Schnee näher heran. »Kann uns sonst noch jemand an diesem Ort hören?«
Schnee zeigte auf das Kohlebecken. »Roudettes Umhang schirmt es ab, aber es hat jemand versucht, uns zu belauschen.«
Uf’uyan kicherte. »Vater Yasar. In der Hoffnung, ein paar Geheimnisse der Kirche herauszufinden, um vielleicht dadurch in den Bischofsrang aufzusteigen. Er wird mich noch schnell genug übertreffen, nehme ich an; ich fürchte, die Kirche neigt dieser Tage dazu, Ehrgeiz reicher als Glauben zu belohnen.«
»Ihr sagtet, der Platz der Kha’iida habe sich geändert«, sagte Talia.
Uf’uyan senkte den Körper. »Unsere Schuld, zumindest zum Teil. In dem gleichen Maße, wie sich die Leute von Arathea der Kirche zuwenden, zeigt sich weniger Toleranz denen gegenüber, die sie zurückweisen.«
Roudette spuckte aus. »Du meinst, sie weisen die Elfenherrschaft zurück, deshalb hetzt ihr Arathea gegen sie auf! Wird Zestan dann die Jagd auf alle ansetzen, die sich weigern, sie zu verehren?«
»Was haben wir dir getan?«, fragte Uf’uyan. »Womit habe ich solchen Hass verdient?«
Roudette schwieg. Sie erinnerte sich an die Schreie der Sterbenden, an ihre eigenen kleinen Hände, die sich durch zersplitterte Bretter
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