Rotkäppchens Rache
»Dafür sorgen, dass Schnee nicht gestört wird.«
*
»Du hättest Rajil umbringen sollen.« Schweiß tropfte Roudette vom Gesicht, als sie und Talia durch die Hügel marschierten. Sie hatte ihre Kapuze nach hinten geschoben und die Ärmel so weit hochgerollt, wie es ging. Der rote Umhang war aus Wolle und für ein kälteres Land gefertigt. Die Kombination mit dem Wolfsfell erweckte in Roudette die Befürchtung, dass Schneewittchen vielleicht recht behalten würde. Sie schwitzte wirklich zu viel und ihr Körper würde bald vertrocknen wie eine Leiche, wenn sie nicht aufpasste.
Sie war in Versuchung, zu ihrer Wolfsgestalt zurückzukehren, in der sie sich nur mit einem dicken Pelz plagen musste. Aber Pelz in der Wüste war keine besondere Verbesserung.
»Ich habe daran gedacht«, sagte Talia.
»Zestan besitzt sie, und der Zauber, den deine Hexe gewirkt hat, wird nicht ewig halten.«
»Manchmal gibt es klügere Möglichkeiten, als jeden umzubringen, der einem im Weg ist.«
»Mag sein«, räumte Roudette ein. »Ich habe allerdings die Erfahrung gemacht, dass Umbringen am sichersten ist.«
»Wenn ich Rajil umgebracht hätte, hätte Jhukha die Kontrolle übernommen, bis Königin Lakhim eine neue Raikh ernennt.« Talia hatte die Hügelkuppe erreicht und kauerte sich nieder. »Rajil hat ihre Zweifel, auch wenn sie sich weigert, das zuzugeben. Man konnte es in ihren Augen sehen. Besser ein menschlicher Feigling an der Macht als eine von Zestans Elfen.«
»Das macht keinen Unterschied.« Roudette kraxelte neben Talia hoch. In der Ferne konnte sie eine kleine Gruppe Männer zu Pferde ausmachen, die zwei Hunden folgten. Sterblichen Hunden, zum Glück. »Menschen leiteten mein Dorf, aber sie beteten die Elfen an, genau wie Rajil.«
»Und trotzdem hat die Wilde Jagd sie getötet.«
»Die Wilde Jagd kümmert sich nicht um Anbetung.« Roudette wandte sich von der näher kommenden Gruppe ab und setzte sich mit dem Rücken gegen den Felsen. »Mein Vater war ein Patriarch der Elfenkirche. Von Geburt an wurden mein Bruder und ich dazu erzogen, dem Pfad zu folgen. Nur meine Großmutter wandte sich von den Elfenlehren ab.«
Heutzutage dachte sie nur noch selten an ihre Großmutter. Natürlich hatte sie auch seit ihrer Kindheit nicht mehr so viel Zeit in der Gesellschaft anderer Menschen verbracht wie jetzt. »Meine Großmutter hatte den Pfad schon Jahre vorher verlassen. Die meiste Zeit brachte sie weitab vom Dorf zu, aber eines Tages bemerkte ich, wie Rauch aus ihrer alten Hütte aufstieg. Ich dachte, vielleicht ist sie zum Mittsommerfest zurückgekommen. Meine Eltern hatten uns eingeschärft, uns von ihr fernzuhalten. Aber die Kirche trug uns auf, die zu retten, die wir lieben, uns zu bemühen, sie wieder zum Heil zurückzuführen. Also stahl ich mich mit einem Korb voll Elfenkuchen weg.«
»Elfenkuchen?«, fragte Talia.
»Muffins, gefüllt mit roter Marmelade, die das Blut des Opfers versinnbildlicht. Bis ich fünf war, glaubte ich, der Erlöser schmeckt nach Erdbeeren.
Ich rief, als ich an Großmutters Hütte ankam, aber es gab keine Antwort. Ich hörte aber Geräusche, deshalb schlich ich mich hinein. Die Geräusche kamen aus dem Schlafzimmer.«
Talia wechselte die Stellung, ohne die Männer unten aus dem Auge zu lassen. »Der Wolf?«
»Ich glaubte, er hätte meine Großmutter gefressen und wäre auf dem Bett eingeschlafen. Ich weiß noch, dass ich dachte, wie groß seine Zähne waren, gefletscht sogar im Schlaf. Blut sickerte aus einem Schnitt in seiner Seite. Ich wollte mich wieder wegschleichen, aber er öffnete die Augen und blickte mich an. Seine Augen waren riesig, und ich erkannte sie als die meiner Großmutter. Ich blieb bei ihr, bis die Nacht anbrach, bis der Jäger kam.«
»Der Jäger aus der Geschichte!«, sinnierte Talia. »Er gehörte zur Wilden Jagd?«
»Das Mittsommerfest war eine Zeit des Gebets und der Beichte, eine Zeit, uns von Sünden zu reinigen, damit die Wilde Jagd anderswo nach Beute suchte. Großmutter wusste es besser. Sie hatte Jahre damit zugebracht, mithilfe ihres Wolfsfells gegen die Wilde Jagd zu kämpfen, bis sie schließlich fiel. Sie war in der Nacht zuvor niedergestochen worden. Ich weiß nicht, wie sie die Kraft aufgebracht hatte, zu ihrer Hütte zurückzukehren. Doch der Jäger spürte einfach ihrem Blut nach.«
Roudette strich über den Pelz des Umhangs. »Großmutter konnte nicht sprechen, aber sie raffte sich weit genug auf, um mich zu einem Schrank zu zerren und zu
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