Rotkehlchen
auf dem Fest, hatte aber bereits zweimal auf die Uhr gesehen und es überdies geschafft, sich gleich viermal zu fragen, ob der Mord an einem versoffenen Frontkämpfer etwas mit dem Kauf der Märklin-Waffe zu tun haben konnte. Wer vermochte so schnell und effektiv mit einem Messer umzugehen, dass er am helllichten Tage mitten in Oslo in einem Hauseingangeinen Mord begehen konnte? Wer war der Prinz? Hatte das Urteil über Moskens Sohn etwas mit der Sache zu tun? Wo war der fünfte norwegische Frontkämpfer, Gudbrand Johansen, abgeblieben? Und warum hatte Mosken nach dem Krieg nicht versucht, Gudbrand Johansen zu finden, wenn dieser ihm doch, wie Mosken behauptete, das Leben gerettet hatte?
Jetzt stand er in einer Ecke neben dem Lautsprecher mit einem Munkholm in einem Glas, um sich nicht die Fragen anhören zu müssen, warum er alkoholfreies Bier trank, und beobachtete ein paar der jüngeren PÜD-Angestellten beim Tanzen.
»Tut mir Leid, ich hab nichts verstanden«, sagte Harry.
Kurt Meirik drehte einen orangefarbenen Drink in den Händen. Er sah in seinem blau gestreiften Anzug noch schlanker aus als sonst. Und der saß wie angegossen, jedenfalls soweit Harry das beurteilen konnte. Harry zog seine Jackenärmel nach unten; ihm war klar, dass man sein Hemd bis weit über die Manschettenknöpfe sehen konnte. Meirik beugte sich noch weiter zu ihm herüber.
»Ich versuch dir zu sagen, dass das hier die Chefin der Auslandsabteilung ist, Polizeiinspektorin …«
Harry wurde auf die Frau an Meiriks Seite aufmerksam. Schlanke Gestalt. Rotes einfaches Kleid. Er spürte eine schwache Vorahnung.
So you got the Looks, but have you got the touch .
Braune Augen. Hohe Wangenknochen. Ein dunkler Teint. Kurze, dunkle Haare, die das schmale Gesicht einrahmten In ihren Augen lag bereits ein Lächeln. Er wusste noch, dass sie schön war, aber doch nicht so … hinreißend. Es war das einzige Wort, das ihr wirklich gerecht wurde: hinreißend. Er wusste, dass ihn die Tatsache, dass sie jetzt vor ihm stand, eigentlich maßlos überraschen sollte, doch irgendwie lag auch wieder eine gewisse Logik darin, so dass er innerlich nicken konnte, als würde er die ganze Situation wiedererkennen.
… Rakel Fauke«, sagte Meirik.
»Wir kennen uns bereits«, sagte Harry.
»Oh?«, erwiderte Meirik überrascht.
Beide sahen sie an.
»Ja, das stimmt«, bestätigte sie. »Aber ich glaube nicht, dass wir so weit gekommen sind, uns gegenseitig vorzustellen.«
Sie reichte ihm die Hand mit diesem leichten Winkel im Handgelenk, der ihn wieder an Klavier-und Ballettstunden denken ließ. »Harry Hole«, sagte er.
»Aha«, antwortete sie. »Natürlich sind das Sie. Vom Dezernat für Gewaltverbrechen, nicht wahr?«
»Richtig.«
»Ich wusste nicht, dass Sie der neue Kommissionsleiter im PÜD sind, als wir uns begegneten. Hätten Sie etwas gesagt, dann …« »Was dann?«, fragte Harry.
Sie neigte den Kopf ein wenig zur Seite.
»Ja, was dann?« Sie lachte. Ihr Lachen ließ dieses idiotische Wort erneut in Harrys Hirn emporploppen: hinreißend.
»Dann hätte ich Ihnen auf jeden Fall erzählt, dass wir am gleichen Ort arbeiten«, sagte sie. »Für gewöhnlich dränge ich anderen nicht auf, wo und was ich arbeite. Es gibt dann immer so viele merkwürdige Fragen. Ihnen geht es doch sicher genauso.«
»Ja, in der Tat«, erwiderte Harry.
Sie lachte wieder. Harry fragte sich, was geschehen musste, damit sie immer so lachte.
»Wie kommt es, dass ich Sie hier noch nie gesehen habe?«, fragte sie. »Harry hat sein Büro ganz hinten auf dem Flur«, erklärte Kurt Meirik.
»Aha«, sie nickte kurz, anscheinend voller Verständnis, doch dieses Lächeln funkelte noch immer in ihren Augen. »Das Büro ganz hinten im Flur, so so.«
Harry nickte düster.
» Nun gut«, sagte Meirik. »Dann kennt ihr euch jetzt, wir waren auf dem Weg zur Bar, Harry.«
Harry wartete auf eine Einladung. Sie kam nicht.
»Bis später«, sagte Meirik.
Verständlich, dachte Harry. Es gab wohl einige, die heute Abend dieses kameradschaftliche Vom-Chef-zum-Untergeordneten-Schulterklopfen vom PÜD-Chef und der Polizeiinspektorin erhalten sollten. Er stellte sich mit dem Rücken zum Lautsprecher, warf ihr aber dennoch einen verstohlenen Blick nach. Sie hatte ihn wiedererkannt. Sie hatte sich daran erinnert, dass sie sich einander nicht vorgestellt hatten. Er leerte den Rest des Glases in einem Schluck. Es schmeckte nach nichts.
»There’s something else: the afterworld «
Waaler warf
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