Rotkehlchen
bekam. Sie waren sehr unterschiedlich. Ich glaube, dass er für Gudbrand Johansen bald so etwas wie ein großer Bruder war.« Sie lächelte. »Das ging wohl vielen so in Daniels Nähe.«
»Wissen Sie, was mit Gudbrand geschehen ist?«
»Er landete, wie Sie richtig vermutet haben, bei uns im Feldlazarett. Zu diesem Zeitpunkt ging der Frontabschnitt gerade an die Russen verloren. Wir zogen uns in aller Eile zurück Es kamen auch keine Medikamente mehr bis zur Front durch, alle Wege waren von entgegenkommenden Fahrzeugen blockiert. Johansen hatte schwere Verletzungen, unter anderem einen Granatsplitter unmittelbar über dem Knie. Wir hatten Angst, dass er Wundbrand bekommen könnte und wir das Bein amputieren müssten. Statt auf die ausbleibenden Medikamente zu warten, transportierte man ihn mit dem Strom nach Westen. Das Letzte, was ich von ihm gesehen habe, war ein bärtigesGesicht unter einer LKW-Plane. Es taute und der Matsch reichte bis zur Achse des Wagens, so dass es fast eine Stunde dauerte, bis er um die erste Kurve herum und außer Sichtweite war.«
Der Hund hatte seinen Kopf in ihren Schoß gelegt und sah mit traurigen Augen zu ihr auf.
»Und das war das Letzte, was Sie von ihm sahen oder hörten?«
Sie hob die dünne Porzellantasse langsam an ihre Lippen, trank einen winzigen Schluck und stellte die Tasse wieder hin. Die Hand zitterte nicht stark, aber sie zitterte.
»Ein paar Monate später habe ich eine Karte von ihm bekommen«, sagte sie. »Er schrieb mir, er hätte noch ein paar Sachen, die Daniel gehörten, unter anderem eine russische Uniformmütze, die, wie ich verstand, eine Art Kriegstrophäe war. Das alles wirkte ein wenig verworren, aber das ist ja so kurz nach einer Kriegsverletzung nicht sehr erstaunlich.«
»Die Karte, haben Sie die …?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Erinnern Sie sich noch, wo sie herkam?«
»Nein. Ich weiß nur noch, dass mich der Name an eine grüne, ländliche Gegend denken ließ und dass ich den Eindruck hatte, es ginge ihm dort gut.«
Harry stand auf.
»Und woher wusste dieser Fauke eigentlich von mir?«, fragte sie.
»Nun …« Harry war einen Moment lang unschlüssig, wie er es sagen sollte, doch sie kam ihm zuvor.
»Alle Frontkämpfer haben wohl von mir gehört«, sagte sie und lächelte dünn. »Die Frau, die ihre Seele an den Teufel verkauft hat, uni ihre Strafe zu verkürzen. Ist es das, was Sie glauben?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Harry ausweichend. Er fühlte, dass er jetzt rausmusste. Sie waren nur zwei Wohnblocks von der Ringstraße entfernt und doch war es hier leise wie an einem Gebirgssee.
»Ich habe Daniel nie mehr gesehen, nachdem sie mir gesagt hatten, er sei tot«, sagte sie.
Sie fixierte einen imaginären Punkt vor sich.
»Über einen Sanitätsoffizier erhielt ich einen Neujahrsgruß von ihm und drei Tage später las ich seinen Namen auf der Liste der Gefallenen.Ich konnte nicht glauben, dass es wahr ist, weigerte mich, es zu akzeptieren, ehe ich ihn nicht gesehen hatte. Also nahmen sie mich mit zum Massengrab am Nordabschnitt, wo sie die Leichen verbrannten Ich stieg ins Grab hinunter, trampelte suchend über die verkohlten Körper und starrte in leere schwarze Augenhöhlen. Doch keiner davon war Daniel. Sie sagten, ich könne ihn unmöglich wiedererkennen, doch ich erwiderte nur, dass sie sich irrten. Dann meinten sie, dass er vielleicht in einem der bereits zugeschütteten Gräber liege. Jedenfalls habe ich ihn nie mehr gesehen.«
Sie zuckte zusammen, als Harry sich räusperte.
»Danke für den Kaffee, Frau Juul.«
Sie begleitete ihn in den Flur. Während er an der Garderobe stand und sich die Jacke zuknöpfte, versuchte er, ihre Züge auf den Bildern an der Wand zu erkennen, doch es gelang ihm nicht.
»Müssen wir Even etwas davon erzählen?«, fragte sie, als sie ihm die Tür öffnete.
Harry sah sie erstaunt an.
»Ich meine, muss er wissen, dass wir darüber gesprochen haben?«, beeilte sie sich hinzuzufügen. »Über den Krieg und … Daniel?« »Nein, nicht, wenn Sie nicht wollen.«
»Er wird ja merken, dass Sie hier waren. Aber können wir nicht einfach sagen, dass Sie auf ihn gewartet haben, dann aber doch wegen irgendetwas gehen mussten?«
Ihr Blick war bittend, aber es lag auch noch etwas anderes darin.
Harry kam erst darauf, was es war, als er in die Ringstraße einbog und das Fenster öffnete, um das befreiende ohrenbetäubende Dröhnen der Autos zu hören, das die Stille aus seinem Kopf blies. Es war
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