Rotkehlchen
darf Burre nicht mit ins Café nehmen«, erklärte sie. »Bitte, setzen Sie sich doch.«
»Ins Café«
»Ja, damit hat er in der letzten Zeit angefangen«, erwiderte sie lächelnd. »Um Zeitung zu lesen. Er kann besser nachdenken, wenn er nicht bloß zu Hause sitzt, sagt er.«
»Da ist wohl was dran.«
»Bestimmt. Und dort kann man sich wohl auch ein bisschen wegträumen, denke ich.«
»An was für Träume denken Sie?«
»Ach, was weiß ich? Vielleicht stellt man sich vor, man wäre wieder jung und säße in einem Straßencafé in Paris oder Wien.« Wieder dieses schnelle, entschuldigende Lächeln. »Genug davon. Apropos Kaffee …«
»Danke, gerne.«
Harry betrachtete die Wände, während Signe Juul in die Küche ging. Über dem Kamin hing das Porträt eines Mannes mit einem schwarzen Umhang. Bei seinem letzten Besuch war Harry dieses Bild nicht aufgefallen. Der Mann mit dem Umhang stand in leicht dramatischer Positur und schien die Augen auf einen fernen Horizont gerichtet zu haben, der außerhalb der Sichtweite des Malers lag. Harry stand auf und trat näher an das Bild heran. Auf einer kleinen Kupferplatte am Rahmen stand: Oberarzt Cornelius Juul, 1885 –1959.
»Das ist Evens Großvater«, erklärte Signe Juul, die mit einem Kaffeetablett wieder ins Zimmer gekommen war.
»Aha. Sie haben aber viele Porträts hier.«
»Ja«, sagte sie und stellte das Tablett ab. »Das Bild daneben zeigt Evens Großvater mütterlicherseits, Doktor Werner Schumann. Er war 1885 einer der Gründer des Ullev å ler Krankenhauses.« »Und das?«
»Jonas Schumann. Oberarzt am Reichshospital.«
»Und Ihre Verwandten?«
Sie sah ihn verwirrt an. »Wie meinen Sie das?«
»Welche dieser Bilder zeigen Ihre Verwandten?«
»Die … die hängen woanders. Nehmen Sie Sahne?«
»Nein danke.«
Harry setzte sich. »Ich wollte mit Ihnen über den Krieg sprechen«, sagte er.
»0 nein«, platzte es aus ihr heraus.
»Ich verstehe, aber es ist wichtig. Sind Sie einverstanden?« »Wir werden sehen«, sagte sie und goss sich selbst Kaffee ein. »Sie waren während des Krieges Krankenschwester …« »Frontschwester, ja. Landesverräterin.«
Harry blickte auf. Ihre Augen sahen ihn ruhig an.
»Wir waren insgesamt vierhundert. Alle wurden nach dem Krieg zu Gefängnisstrafen verurteilt. Obwohl das Internationale Rote Kreuz einen Appell an die norwegischen Behörden gerichtet hatte, die Strafverfolgung zu stoppen. Das Norwegische Rote Kreuz hat uns erst 1990 um Entschuldigung gebeten. Evens Vater auf dem Bild dort vorne hatte Verbindungen und konnte meine Strafe verkürzen – unter anderem, weil ich 1945 zwei Verwundeten der Heimatfront geholfen hatte. Und weil ich zu keinem Zeitpunkt Mitglied der Nationalen Sammlung war. Wollen Sie noch mehr wissen?«
Harry starrte in seine Kaffeetasse. Ihm fiel auf, wie still es in diesem Villenviertel Oslos war.
»Es geht mir nicht um Ihre Geschichte, Frau Juul. Erinnern Sie sich an einen norwegischen Frontsoldaten mit Namen Gudbrand Johansen?«
Signe Juul zuckte zusammen, und Harry erkannte, dass er auf etwas gestoßen war.
»Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?«, fragte sie mit angespannten Gesichtszügen.
»Hat Ihnen Ihr Mann das nicht schon gesagt?«
»Even erzählt mir nie etwas.«
»Nun, ich versuche mir ein Bild von den norwegischen Frontkämpfern zu machen, die in Sennheim waren, ehe sie an die Front geschickt wurden.«
»Sennheim«, wiederholte sie leise für sich selbst. »Daniel war dort.«
»Ja, ich weiß, dass Sie mit Daniel Gudeson verlobt waren. Sindre Fauke hat es mir gesagt.«
»Wer ist das?«
»Ein früherer Frontkämpfer und späterer Widerstandsaktivist, den Ihr Mann kennt. Es war Fauke, der mir vorgeschlagen hat, mit Ihnen über Gudbrand Johansen zu sprechen. Fauke selbst desertierte, er weiß also nicht, was später mit Gudbrand geschehen ist. Aber ein anderer norwegischer Frontkämpfer, Edvard Mosken, erzählte mir von einer Handgranate, die in einem Schützengraben explodierte. Mosken wusste aber nicht, was danach geschehen ist. Wenn Johansen jedoch überlebte, muss man ja wohl annehmen, dass er in einem Feldlazarett gelandet ist.«
Signe Juul machte ein schmatzendes Geräusch und Burre kam angetrottet, so dass sie ihre Hände in dem dicken, steifen Pelz des Tieres vergraben konnte.
»Ja, ich erinnere mich an Gudbrand Johansen«, sagte sie. »Daniel schrieb ab und zu von ihm, sowohl in den Briefen aus Sennheim als auch auf den Zetteln, die ich im Feldlazarett von ihm
Weitere Kostenlose Bücher