Rotkehlchen
Norwegen?«
Brandhaug war schockiert. Sie hatte das so unbekümmert vorgebracht, so ganz ohne Scham über ihr eigenes fehlendes Wissen.
»Nein«, sagte er langsam, als spräche er mit einem schwerfälligen Kind. »Nicht wie in Norwegen. In Norwegen haben wir uns verteidigt, und wir hatten die norwegische Regierung und den König inLondon, die während der ganzen Zeit weitermachten, Radiosendungen produzierten … und ihre Landsleute zu Hause unterstützten und aufmunterten.«
Er hörte, dass das ein wenig unglücklich formuliert war, und fügte hinzu:
»In Norwegen setzte sich das ganze Volk geeint gegen die Okkupationsmacht zur Wehr. Die wenigen norwegischen Verräter, die deutsche Uniformen anzogen und auf Seiten der Deutschen kämpften, sind als der Abschaum zu betrachten, den es in jedem Land gibt. Doch in Norwegen haben die guten Kräfte zusammengehalten; die fähigen Menschen, die den Widerstandskampf leiteten, bildeten den Kern, der uns den Weg zur Demokratie wies. Diese Menschen waren loyal zueinander, und genau das war es, was Norwegen schließlich rettete. Die Demokratie ist ihre eigene Belohnung. Streichen Sie das, was ich über den König gesagt habe, Natascha.«
»Sie meinen also, alle, die auf Seiten der Deutschen gekämpft haben, seien Abschaum?«
Auf was wollte sie eigentlich hinaus? Brandhaug entschloss sich, dem Gespräch ein Ende zu machen.
»Ich wollte damit nur sagen, dass diejenigen, die während des Krieges Landesverrat begangen haben, froh sein sollten, mit einer Gefängnisstrafe davongekommen zu sein. Ich war als Botschafter in Ländern, wo solche Personen samt und sonders erschossen worden wären, und ich bin mir wirklich nicht sicher, ob wir das nicht besser auch hier in Norwegen hätten tun sollen. Aber zurück zu dem Kommentar, den Sie von mir wollten, Natascha. Also: Das Außenministerium gibt keinen Kommentar zu den Demonstrationen oder den neuen Mitgliedern der österreichischen Regierung ab. Ich habe Gäste, wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden, Natascha …«
Natascha hatte Verständnis und er legte auf.
Als er wieder ins Wohnzimmer kam, herrschte Aufbruchstimmung.
»Schon?«, sagte er und lächelte breit, versuchte seine Gäste aber nicht zurückzuhalten. Er war müde.
Er begleitete sie zur Tür, drückte insbesondere die Hand der Polizeipräsidentin und sagte, sie solle nicht zögern, sich an ihn zu wenden, wenn er ihr mit irgendetwas helfen könne. Der Dienstweg sei sicher gut, aber …
Das Letzte, an das er vor dem Einschlafen dachte, war Rakel Fauke. Und ihr Polizist, der aus dem Weg geräumt war. Er schlief mit einem Lächeln auf den Lippen ein, wachte aber mit heftigen Kopfschmerzen auf.
Fredrikstad – Halden, 10. Mai 2000
71 Der Zug war kaum halb voll und Harry hatte einen Fensterplatz erhalten.
Das Mädchen auf dem Sitz hinter ihm hatte den Kopfhörer ihres Walkmans abgenommen, so dass er die Stimme des Sängers hören konnte, nicht aber die Instrumente. Der Abhörexperte, den sie damals in Sydney zu Rate gezogen hatten, hatte Harry erklärt, dass das menschliche Ohr bei geringen Lautstärken diejenigen Frequenzen verstärkt, in denen die menschliche Stimme liegt.
Es war irgendwie tröstlich, dachte Harry, dass das Letzte, was man hörte, ehe es vollkommen still wurde, die Stimmen von Menschen waren.
Regentropfen kämpften sich zitternd quer über die Scheibe. Harry blickte über die flachen nassen Felder und die elektrischen Leitungen, die neben den Gleisen an den Pfosten auf und ab wippten.
Auf dem Bahnsteig in Fredrikstad hatte ein Janitscharen-Orchester gespielt. Der Schaffner hatte ihm erklärt, dass es dort immer vor dem Nationalfeiertag übte.
»Immer dienstags, in dieser Jahreszeit«, sagte er. »Der Dirigent hält die Proben in Anwesenheit von Menschen für realistischer.«
Harry hatte eine Tasche mit ein paar Kleidern gepackt. Die Wohnung in Klippan sollte einfach sein, aber gut ausgestattet. Ein Fernseher, eine Stereoanlage, ja sogar ein paar Bücher.
» Mein Kampf und so etwas«, hatte Meirik mit einem Lächeln gesagt.
Er hatte Rakel nicht angerufen. Obgleich es ihm gut getan hätte, ihre Stimme zu hören. Eine letzte menschliche Stimme.
»Nächster Halt, Halden«, schepperte es nasal aus dem Lautsprecher und wurde dann von einem kreischenden falschen Ton abgewürgt, als der Zug bremste.
Harry fuhr mit dem Finger über die Scheibe, während der letzte Gedanke noch in seinem Kopf herumschwirrte. Ein kreischender,
Weitere Kostenlose Bücher