Rotkehlchen
den Stuhl zurück und stand ohne ein Wort auf und ging. Harry blieb sitzen und starrte die Serviette an. Sie muss sie lange in ihrer Faust zusammengeknüllt haben, dachte er, denn der Stoff war zu einer kleinen Kugel zusammengeballt. Er sah zu, wie sich die Serviette langsam wie eine weiße Papierblume entfaltete.
Halvorsens Wohnung, 6. Mai 2000
67 Als Halvorsen vom Klingeln des Telefons geweckt wurde, zeigten die Leuchtziffern des Digitalweckers 1 Uhr 20.
»Hole – hast du schon geschlafen?«
»Nein«, murmelte Halvorsen, ohne die geringste Ahnung, warum er log.
»Ich denke über ein paar Sachen bezüglich Sverre Olsen nach.« An dem Atem und dem Verkehrslärm im Hintergrund erkannte er, dass Harry irgendwo draußen umherlief.
»Ich weiß, was du sagen willst«, sagte Halvorsen. »Sverre Olsen kaufte ein Paar Combat-Boots im Top Secret in der Henrik IbsensGate. Sie erkannten ihn auf dem Bild und konnten sich sogar an das Datum erinnern. Es zeigte sich nämlich, dass die von der Kripo da gewesen waren, um sein Alibi in der Hallgrim-Dale-Sache vor Weihnachten zu überprüfen. Aber das habe ich dir doch alles schon ins Büro gefaxt.«
»Ich weiß, da komme ich gerade her.«
»Jetzt? Wolltest du heute Abend nicht essen gehen?«
»Mit dem Essen waren wir schnell fertig.«
»Und dann bist du zur Arbeit gegangen?«, fragte Halvorsen ungläubig.
»Ja. Dein Fax hat mich nachdenklich gemacht. Könntest du morgen vielleicht ein paar andere Sachen für mich in Erfahrung bringen?«
Halvorsen stöhnte. Zum einen hatte ihm Bjarne Møller unzweideutig zu verstehen gegeben, dass Harry Hole nichts mehr mit der Ellen-Gjelten-Sache zu tun hatte. Zum anderen war es Samstag und der morgige Tag war frei.
»Bist du noch da, Halvorsen?«
»Ja doch.«
»Ich kann mir schon vorstellen, was Møller gesagt hat. Vergiss es. Jetzt hast du die Chance, ein bisschen mehr über die Arbeit als Ermittler zu lernen.«
»Harry, das Problem ist …«
»Halt den Mund und hör mir zu, Halvorsen.«
Halvorsen fluchte innerlich. Und hörte zu.
Vibesgate, 8. Mai 2000
68 Der Duft von frisch gebrühtem Kaffee war bis in den Flur zu riechen, wo Harry seine Jacke an eine überladene Garderobe hängte.
»Danke, dass Sie mich so kurzfristig empfangen konnten, Herr Pauke.«
»Ach was«, brummte Fauke aus der Küche. »Ein alter Mann wie ich ist doch froh, wenn er helfen kann. Wenn ich überhaupt helfen kann.«
Er goss Kaffee in große Becher und dann setzten sie sich an den Küchentisch. Harry fuhr mit den Fingerkuppen über die raue Oberfläche des dunklen, schweren Eichentisches.
»Aus der Provence«, sagte Fauke unaufgefordert. »Meine Frau liebte französische Bauernmöbel.«
»Ein schöner Tisch. Ihre Frau hatte einen guten Geschmack.« Fauke lächelte.
»Sind Sie verheiratet, Herr Hole? Nicht? Und Sie sind es auch nicht gewesen? Sie sollten nicht zu lange warten, wissen Sie. Man wird ein Sonderling, wenn man allein ist.«
Er lachte.
»Ich weiß, wovon ich spreche. Ich war schon über dreißig, als sie und ich heirateten. Damals war das spät. Mai 1955.«
Er deutete auf eines der Bilder, das über dem Küchentisch hing. »Ist das wirklich Ihre Frau?«, fragte Harry. »Ich dachte, das wäre Rakel.«
»Oh, ja, natürlich«, sagte er, nachdem er Harrys Verwirrung bemerkt hatte. »Ich vergesse immer, dass Sie und Rakel sich aus dem PÜD kennen.«
Sie gingen in die Stube, wo die Papierstapel seit dem letzten Mal angewachsen waren und alle Stühle mit Ausnahme des Schreibtischstuhls belagerten. Fauke räumte ihnen einen Platz am überfüllten Salontisch frei.
»Haben Sie etwas über die Namen herausgefunden, die ich Ihnen gegeben habe?«
Harry gab Fauke ein kurzes Resümee.
»Inzwischen sind noch ein paar Elemente hinzugekommen«, sagte er. »Eine Polizistin ist ermordet worden.«
»Ich habe davon in der Zeitung gelesen.«
»Die Sache scheint aber aufgeklärt zu sein, wir warten nur noch auf die Ergebnisse der DNA-Analyse. Glauben Sie an Zufälle, Fauke?« »Eigentlich nicht.«
»Ich auch nicht. Deshalb beginne ich, mir Fragen zu stellen, wenn die gleichen Personen in Sachen auftauchen, die anscheinend nichts miteinander zu tun haben. An dem Abend, an dem die Polizistin, Ellen Gjelten, ermordet wurde, hat sie mir folgende Nachricht auf den Anrufbeantworter gesprochen: ›Wir haben ihn jetzt.‹ Sie hatte mir geholfen, nach Personen zu suchen, die in Kontakt mitdem Waffenhändler der Märklin-Waffe in Johannesburg
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