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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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ganzen Leben nicht die Hände schmutzig machen müssen. Was sollte sie tun, wenn sie allein war, sie, die nie eine Arbeit gehabt hatte? Er war ihre Lebensgrundlage, ihre Familie, kurz gesagt, alles, was sie hatte. Nein, er machte sich nicht allzu viele Sorgen darüber, was Elsa denken oder nicht denken mochte.
    Dennoch, sie war es, an die er jetzt dachte. Dass er jetzt gerne dort wäre, mit ihr zusammen. Ein warmer, vertrauter Körper an seinem Rücken, ein Arm um sich. Ja, ein bisschen Wärme nach all der Kälte.
    Er sah wieder auf die Uhr. Er könnte sagen, das Essen sei früh zu Ende gewesen, so dass er sich entschlossen habe, nach Hause zu fahren. Sie würde sich sogar freuen, sie hasste es ja, nachts in diesem großen Haus allein zu sein.
    Er lag noch eine Weile da und lauschte den Geräuschen aus dem Nachbarzimmer.
    Dann stand er schnell auf und begann sich anzuziehen.
     
    Der alte Mann ist nicht mehr alt. Und er tanzt. Es ist ein langsamer Walzer und sie hat ihre Wange an seinen Hals gelegt. Sie haben lange getanzt, sind verschwitzt, und ihre Haut ist so warm, dass sie an der seinen brennt. Er kann spüren, dass sie lächelt. Er hat Lust weiterzutanzen, zu tanzen und sie einfach so zu halten, bis das Haus niederbrennt, der Tag kommt und sie die Augen öffnen und sehen können, dass sie an einen anderen Ort gekommen sind.
    Sie flüstert etwas, aber die Musik ist zu laut.
    »Was?«, fragt er und beugt seinen Kopf. Sie legt ihre Lippen an sein Ohr.
    »Du musst aufwachen«, sagt sie.
    Er schlug die Augen auf. Blinzelte in das Dunkel, ehe er seinen eigenen Atem steif und weiß in der Luft vor sich erkannte. Er hatte das Auto nicht kommen hören. Er warf sich herum, stöhnte leise und versuchte den Arm unter sich hervorzuziehen. Es war das Geräuschdes Garagentores, das ihn geweckt hatte. Er hörte das Auto anfahren und sah noch einen blauen Volvo im Dunkel der Garage verschwinden. Sein rechter Arm war eingeschlafen. In wenigen Sekunden würde der Mann herauskommen, im Licht stehen, das Garagentor schließen und dann … wäre es zu spät.
    Verzweifelt fingerte der Alte am Reißverschluss des Schlafsacks herum und bekam seinen linken Arm heraus. Adrenalin strömte in sein Blut, doch der Schlaf lastete noch immer wie eine Schicht Watte auf ihm, die alle Geräusche dämpfte und ihn nicht klar sehen ließ. Er hörte, wie eine Autotür geschlossen wurde.
    Er hatte nun beide Arme aus dem Schlafsack bekommen, und der sternenklare Himmel gab glücklicherweise genug Licht, so dass er rasch das Gewehr fand und anlegte. Schnell, schnell! Er presste sein Kinn an den kalten Gewehrkolben und schaute durch das Zielfernrohr. Er blinzelte, er sah nichts. Mit zitternden Fingern löste er den Lappen, den er um den Lauf gewickelt hatte, damit sich kein Reif bildete. So! Er presste das Kinn wieder an den Kolben. Was war jetzt los? Die Garage war nicht mehr deutlich zu erkennen, er musste an die Feinjustierung gekommen sein. Er hörte den klappernden Laut des zufallenden Garagentores. Er drehte am Schärferegler und der Mann dort unten kam in den Fokus. Es war ein großer, breitschultriger Mann in einem schwarzen Wollmantel. Er hatte ihm den Rücken zugewandt. Der Alte kniff zweimal die Augen zu. Der Traum hing noch immer wie ein leichter Nebel vor seinen Augen.
    Er wollte warten, bis sich der Mann umgedreht hatte, damit er sich hundertprozentig sicher sein konnte, dass er der Richtige war. Sein Finger krümmte sich um den Abzug, vorsichtig erhöhte er den Druck. Es wäre leichter gewesen, wenn er eine Waffe gehabt hätte, mit der er jahrelang trainiert hatte, dann hätte er den Abzugspunkt im Blut gehabt und alle Bewegungen wären automatisch abgelaufen. Er konzentrierte sich auf seinen Atem. Einen Menschen zu töten ist nicht schwer. Nicht, wenn man es trainiert hat. Zu Beginn der Schlacht bei Gettysburg im Jahre 1863 hatten sich zwei unerfahrene Kompanien in nur fünfzig Metern Entfernung gegenübergestanden und Salve um Salve abgefeuert, ohne dass ein Einziger getroffen worden war – nicht weil sie so schlechte Schützen gewesen wären, sondern weil sie über die Köpfe der anderen hinweggeschossen hatten. Sie hatten es ganz einfach nicht geschafft, diesen letzten Schritt zumachen und einen anderen Menschen zu töten. Doch als sie es erst einmal getan hatten …
    Der Mann vor der Garage drehte sich um. Durch das Zielfernrohr sah es so aus, als blicke er den Alten direkt an. Er war es, da gab es keinen Zweifel. Sein Oberkörper

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