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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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füllte fast das ganze Kreuz des Zielfernrohrs aus. Der Nebel im Kopf des alten Mannes begann sich zu lichten. Er hörte auf zu atmen und drückte den Abzug langsam und ruhig zurück. Er musste mit dem ersten Schuss treffen, denn außerhalb des Lichtkegels vor der Garage war es stockdunkel. Die Zeit stand still. Benn Brandhaug war ein toter Mann. Das Hirn des Alten war jetzt vollkommen klar.
    Deshalb erreichte ihn das Gefühl, etwas falsch gemacht zu haben, eine Tausendstelsekunde, ehe er begriff, was es war. Der Abzug stoppte. Der Alte drückte fester, doch der Abzug wollte nicht weiter. Die Sicherung. Der Alte wusste, dass es zu spät war. Er fand die Sicherung mit seinem Daumen und schob sie hoch. Dann starrte er durch das Zielfernrohr auf den leeren, hellen Platz. Brandhaug war verschwunden, er war auf dem Weg zur Haustür, die auf der anderen Seite des Hauses an der Straße lag.
    Der Alte blinzelte. Sein Herz schlug wie ein Hammer gegen die Innenseiten seiner Rippen. Dann ließ er die Luft aus seinen schmerzenden Lungen. Er blinzelte wieder. Die Umgebung schien jetzt in einer Art Dunst zu verschwimmen. Er hatte versagt. Mit der bloßen Faust schlug er auf den Boden. Erst als die erste warme Träne seinen Handrücken traf, bemerkte er, dass er weinte.
     
    Klippan, Schweden, 11. Mai 2000
     
    73 Harry wachte auf.
    Es dauerte eine Sekunde, ehe er begriff, wo er war. Als er am Nachmittag in die Wohnung gekommen war, hatte er als Erstes gedacht, dass er hier unmöglich würde schlafen können. Nur eine dünne Wand und eine einfache Glasscheibe trennten das Schlafzimmer von der stark befahrenen Straße draußen. Doch kaum hatte der Supermarkt auf der anderen Straßenseite geschlossen, wirkte die Gegend wie tot. Nur wenige Autos waren über dieStraße gefahren und die Menschen waren wie vom Erdboden verschluckt.
    Harry hatte sich im ICA-Supermarkt eine Pizza Grandiosa gekauft und im Herd aufgebacken. Schon seltsam, in Schweden zu hocken und italienisches Essen zu essen, das in Norwegen hergestellt worden war. Dann hatte er den verstaubten Fernseher eingeschaltet, der in der Ecke auf einer leeren Bierkiste stand. Irgendetwas konnte mit dieser Kiste nicht stimmen, denn alle Menschen hatten einen merkwürdigen grünlichen Schimmer im Gesicht. Er hatte sich einen Dokumentarfilm über ein Mädchen angeschaut, das eine persönliche Erzählung über ihren Bruder geschrieben hatte. Der war während ihrer ganzen Jugend in den siebziger Jahren in der Welt umhergereist und hatte ihr Briefe geschrieben. Aus dem Milieu der Pariser Clochards, aus einem Kibbuz in Israel, von einer Zugreise in Indien und am Rande der Verzweiflung aus Kopenhagen. Alles war einfach gestrickt. Ein paar Filmschnitte, doch in der Regel Standbilder, Voice-over und eine seltsam melancholische, traurige Erzählung. Er musste davon geträumt haben, denn er war mit den gleichen Personen und Orten auf der Netzhaut aufgewacht.
    Das Geräusch, das ihn geweckt hatte, kam aus dem Mantel, den er über den Küchenstuhl gehängt hatte. Der hohe Piepton hallte zwischen den Wänden des nackten Raumes wider. Er hatte den kleinen elektrischen Heizkörper voll aufgedreht, fror aber dennoch unter der dünnen Decke. Er stellte die Füße auf das kalte Linoleum und fischte das Handy aus der Innentasche seines Mantels.
    »Hallo?«
    Keine Antwort.
    »Hallo?«
    Bloß ein Atmen war am anderen Ende der Leitung zu hören.
    »Bist du das, S ø s?« Sie war die Einzige, die ihm in der Schnelle einfiel, die seine Nummer hatte und auf die Idee kommen konnte, ihn mitten in der Nacht anzurufen.
    »Stimmt etwas nicht? Mit Helge?«
    Er hatte seine Zweifel gehabt, ehe er Søs den Vogel überließ, doch sie hatte sich so gefreut und ihm versprochen, gut auf ihn aufzupassen. Aber das war nicht Søs. Sie atmete nicht so. Und sie hätte ihm geantwortet.
    »Wer ist da?«
    Noch immer keine Antwort.
    Er wollte auflegen, als ein leises Schlucken zu hören war. Der Atem klang zitternd, und es hörte sich an, als wollte die Person am anderen Ende zu weinen beginnen. Harry setzte sich auf das Sofa, das gleichzeitig auch als Bett fungierte. Durch den Spalt der dünnen blauen Gardine konnte er die ICA-Leuchtreklame sehen.
    Harry fischte eine Zigarette aus dem Päckchen, das auf dem Couchtisch lag, zündete sie an und legte sich hin. Er nahm einen tiefen Zug und hörte, dass das zitternde Atmen in tiefes Schluchzen überging.
    »So, so«, sagte er besänftigend.
    Ein Auto fuhr draußen vorbei. Sicher ein

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