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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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kennen sich mit Archivierung aus, dachte Harry.
    »Dann habe ich zu telefonieren begonnen. Leider ist mein Deutsch so verdammt schlecht!«
    Halvorsens Lachen knackte im Lautsprecher.
    »Ich hatte acht davon angerufen, ehe ich eine Krankenschwester an der Strippe hatte, die sich an Gudbrand Johansen erinnerte. Es ist eine Frau von fünfundsiebzig Jahren. Sie sagte, sie erinnere sich sehr gut an ihn. Morgen kriegst du ihre Nummer und die Adresse. Sie heißt übrigens Mayer. Helena Mayer.«
    Die knisternde Stille wurden von einem Piepen und dem Klicken des stoppenden Kassettenrecorders abgelöst.
     
    Harry träumte von Rakel, von ihrem Gesicht, das sich an seinem Hals vergrub, von ihren starken Händen und den fallenden Tetris-Steinen. Doch es war Sindre Faukes Stimme, die ihn mitten in der Nacht weckte und ihn in der Dunkelheit nach den Konturen eines Menschen suchen ließ:
    »Sie müssen Gudbrand Johansen finden!«
     
    Akershus-Festung, 13. Mai 2000
     
    84 Es war halb drei in der Nacht und der alte Mann hatte seinen Wagen neben einem niedrigen Warenlager auf einer Straße namens Akershusstranda geparkt. Die Straße war früher eine pulsierende Verkehrsader in Oslo gewesen, doch als der Fjellinje-Tunnel eröffnet worden war, war die Akershusstranda auf der einen Seite abgeriegelt worden. Heute wurde sie tagsüber nur noch von denjenigen benutzt, die am Hafen arbeiteten. Und den Freiern, die ein ruhiges Plätzchen für ihre Tour suchten. Zwischen der Straße und dem Wasser lagen nämlich nur ein paar Lagergebäudeund auf der anderen Seite war die Westfassade der Festung Akershus. Hätte sich jedoch jemand mit einem lichtstarken Fernglas in Aker Brygge postiert, hätte er das Gleiche gesehen wie der Alte: den Rücken eines grauen Mantels, der hochzuckte, wenn der Mann darin seine Hüften nach vorne stieß, und das Gesicht einer stark geschminkten und nicht weniger stark berauschten Frau, die sich, unmittelbar unter den Kanonen an die Westwand der Festung gelehnt, durchficken ließ. Auf beiden Seiten des Pärchens standen große Scheinwerfer, die die Felswand und die Mauer darüber erhellten.
    Kriegswehrmachtsgefängnis Akershus. Der innere Teil der Festungsanlage war nachts geschlossen, und obgleich es ihm einmal gelungen war, dort hineinzukommen, war das Risiko, am eigentlichen Richtplatz entdeckt zu werden, zu groß. Niemand wusste genau, wie viele Menschen dort während des Krieges erschossen worden waren, doch es gab eine Gedenktafel für die gefallenen norwegischen Widerstandskämpfer. Der Alte wusste mit Sicherheit, dass einer davon ein simpler Verbrecher gewesen war, der die Strafe verdient hatte, egal, von welcher Seite man das betrachtete. Und dort hatten sie auch Vidkun Quisling erschossen und all die anderen, die nach dem Krieg zum Tode verurteilt worden waren. Quisling hatte im Pulverturm eingesessen. Der Alte hatte sich oft gefragt, ob das diesem Buch über die Hinrichtungsformen der letzten Jahrhunderte den Namen gegeben hatte. War die Beschreibung der Hinrichtung durch Erschießen, also durch ein Erschießungskommando, in Wahrheit die Schilderung der Hinrichtung von Vidkun Quisling an jenem Oktobertag 1945, als sie den Verräter auf den Platz hinausführten, um seinen Körper mit Gewehrkugeln zu durchbohren? Hatten sie ihm, wie es der Verfasser beschrieb, eine Haube über den Kopf gezogen und einen weißen Lappen als Ziel auf seinem Herzen befestigt? Hatten sie vier Kommandoworte gerufen, ehe die Schüsse fielen? Und hatten die geübten Schützen ihn so schlecht getroffen, dass der Arzt mit dem Stethoskop feststellte, dass der zum Tode Verurteilte erneut hingerichtet werden musste – bis sie vier-oder fünfmal geschossen hatten und der Tod durch den Blutverlust aus den zahlreichen Wunden eintrat?
    Der Alte hatte die Beschreibung aus dem Buch ausgeschnitten.
    Der Mann in dem grauen Mantel war fertig und stieg die Böschung zu seinem Auto hinunter. Die Frau stand noch immer obenan der Mauer. Sie hatte den Rock hinuntergezogen und sich eine Zigarette angezündet, die im Dunkeln aufglühte, wenn sie daran zog. Der Alte wartete. Dann drückte sie die Zigarette mit ihrem Absatz aus und ging über den schlammigen Weg um die Festung herum zurück zu ihrem Revier auf den Straßen um die Norges Bank.
    Der alte Mann drehte sich um und sah auf den Rücksitz, von wo aus ihn die geknebelte Frau mit diesem panischen, vor Schreck starren Blick ansah. So hatte sie jedes Mal geschaut, wenn sie aus dem

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