Rotkehlchen
schwarze Hose und karierte Strümpfe. Ein umgekippter Stuhl lag hinter ihm vor dem Kleiderschrank. Die Schuhe standen ordentlich neben dem Stuhl. Harry sah zur Decke auf. Das Hundehalsband war wie erwartet am Deckenhaken befestigt. Harry versuchte es nicht zu tun, doch sein Blick huschte unwillkürlich über Even Juuls Gesicht. Ein Auge starrte ins Zimmer, das andere auf Harry. Wie bei einem Troll mit zwei Köpfen, dachte Harry. Er trat ans Fenster, das nach Osten zeigte, und sah einige Jungen auf dem Irisvei über die Straße herbeiradeln. Das Gerücht über die Anwesenheit von Polizeiautos hatte sich wie immer in einer solchen Nachbarschaft unerklärlich schnell verbreitet.
Harry schloss die Augen und dachte nach. Der erste Eindruck ist wichtig; der erste Gedanke, den man hat, wenn man in eine neue Situation kommt, ist oft der richtigste. Das wusste er von Ellen. Seine Schülerin hatte ihm beigebracht, sich auf das erste Gefühl zu konzentrieren, das er wahrnahm, wenn er an einen Tatort kam. Deshalb musste sich Harry nicht umdrehen, um sich zu vergewissern, dass derSchlüssel hinter ihm auf dem Boden lag; und er war sich auch sicher, dass sie nur Even Juuls Fingerabdrücke im Raum finden würden und dass niemand eingebrochen hatte. Ganz einfach, weil sowohl der Mörder als auch das Opfer an der Decke hingen. Der zweiköpfige Troll war entzweit.
»Ruf Weber an«, sagte Harry zu Halvorsen, der dazugekommen war, in der Türöffnung stand und den Toten anstarrte.
»Er hatte sich vielleicht eine andere Einleitung des morgigen Feiertags gedacht, aber tröste ihn damit, dass er hier einen einfachen Job haben wird. Even Juul hat den Mörder entlarvt und musste das mit seinem Leben büßen.«
»Und wer ist es?«, fragte Waaler.
»Frag besser: Wer war es? Der ist auch tot. Er nannte sich Daniel Gudeson und befand sich in Juuls eigenem Kopf.«
Auf dem Weg nach draußen bat Harry Halvorsen, Weber zu instruieren, ihn selbst zu benachrichtigen, falls er die Märklin-Waffe fand.
Auf der Außentreppe blieb Harry stehen und sah sich um. Plötzlich hatten auffällig viele Nachbarn in ihren Gärten zu tun und liefen auf Zehenspitzen umher, um über ihre Hecken zu schauen. Auch Waaler trat nach draußen und blieb neben Harry stehen.
»Ich hab nicht ganz verstanden, was du da drinnen gesagt hast«, bekannte er. »Meinst du, der Kerl da drinnen hat wegen seiner Schuldgefühle Selbstmord begangen?«
Harry schüttelte den Kopf.
»Nein, ich habe das so gemeint, wie ich es gesagt habe. Sie haben einander getötet. Even tötete Daniel, um ihn zu stoppen. Und Daniel tötete Even, damit er ihn nicht entlarvte. Endlich hatten sie einmal gleiche Interessen.«
Waaler nickte, sah aber nicht so aus, als hätte er jetzt mehr verstanden.
»Der Alte kommt mir irgendwie bekannt vor«, sagte er. »Der, der noch am Leben ist.«
»Tja, das ist der Vater von Rakel Faulte, falls du …«
»Na klar, diese attraktive Biene da oben vom PÜD.«
»Hast du ‘ne Zigarette?«, fragte Harry.
»Nee«, sagte Waaler. »Der Rest hier ist dein Job, Hole. Ich dachte, ich fahr jetzt, oder brauchst du noch irgendwie Hilfe?«
Harry schüttelte den Kopf und Waaler ging in Richtung Gartentor.
»Doch, ja, da ist noch was«, rief Harry ihm hinterher. »Wenn du morgen nichts Spezielles vorhast, könntest du vielleicht meinen Dienst übernehmen? Ich brauch noch einen erfahrenen Polizisten.«
Waaler lachte und ging weiter.
»Es dreht sich nur darum, den morgigen Gottesdienst in der Moschee in Grønland zu bewachen«, fuhr Harry fort. »Ich sehe ja, dass du ein gewisses Talent für so etwas hast. Wir müssen bloß aufpassen, dass diese Glatzköpfe nicht die Muslime verprügeln, weil sie Maulud feiern.«
Waaler war bis zum Gartentor gekommen, blieb dann aber abrupt stehen.
»Und dafür hast du die Verantwortung?«, fragte er über die Schulter.
»Das ist nur eine Kleinigkeit«, sagte Harry. »Zwei Autos, vier Mann.«
»Wie lange?«
»Von acht bis drei.«
Waaler drehte sich mit einem breiten Lächeln um.
»Weißt du was?«, sagte er. »Wenn ich es mir recht überlege, dann schulde ich dir das irgendwie. Ist in Ordnung, ich übernehm deinen Dienst.«
Waaler hob die Hand zum Gruß an die Mütze, setzte sich ins Auto, startete den Motor und verschwand.
Mir etwas schulden. Wofür denn, dachte Harry und lauschte den dumpfen Klatschlauten vom Tennisplatz. Doch schon im nächsten Augenblick dachte er nicht mehr daran, denn sein Handy klingelte wieder und dieses
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