Rotkehlchen
es ihm Angst einjagte, wusste er nicht genau; er wusste bloß, dass es nicht besser werden konnte,wenn alles so perfekt war, dass man nichts ändern wollte. Doch es war zu spät. Natürlich war es zu spät.
Er hielt die Luft an, drehte sich um und ging zurück.
Das Schwarzweißbild hatte einen einfachen Goldrahmen. Die Frau auf dem Foto hatte ein schmales Gesicht, hohe, markante Wangenknochen und ruhige, lachende Augen, die ein wenig über die Kamera hinwegblickten, vermutlich zum Fotografen. Sie sah stark aus. Sie trug eine einfache Bluse und auf dieser Bluse hing das silberne Kreuz.
Sie malen sie seit bald zweitausend Jahren auf Ikonen.
Nicht deshalb war sie ihm so bekannt vorgekommen, als er zum ersten Mal ein Bild von ihr gesehen hatte.
Es gab keinen Zweifel. Das war die gleiche Frau, die er auf dem Foto in Beatrice Hoffmanns Zimmer gesehen hatte.
TEIL IX:
DER JÜNGSTE TAG
Oslo, 17. Mai 2000
94 Ich schreibe dies nieder, damit derjenige, der diese Zeilen findet, ein wenig besser versteht, warum ich getan habe, was ich getan habe. Ich habe mich in meinem Leben oft zwischen mehreren Übeln entscheiden müssen, und das muss man berücksichtigen, wenn man mich aburteilen will. Doch ebenso muss man berücksichtigen, dass ich diesen Entscheidungen niemals ausgewichen bin, dass ich mich meinen moralischen Pflichten nie entzogen habe, sondern lieber das Risiko eingegangen bin, falsche Entschlüsse zu fassen, als eines dieser feigen Leben der stillen Mehrheit zu leben, die ihr Heil in der Menge suchen und diese für sich entscheiden lassen. Die letzte Wahl, die ich getroffen habe, traf ich, um vorbereitet zu sein, wenn ich jetzt dem Herrn und Helena wieder entgegentrete.
»Scheiße!«
Harry stieg auf die Bremse, als sich die Menschenmenge in ihren Anzügen und Trachten an der Majorstukreuzung auf den Fußgängerüberweg schob. Die ganze Stadt schien bereits auf den Beinen zu sein. Die Ampel wollte ganz einfach nicht wieder grün werden. Dann konnte Harry endlich die Kupplung treten und Gas geben. In der Vibesgate parkte er in der zweiten Reihe, fand Faukes Klingelknopf und schellte. Ein kleiner Knirps rannte auf den lauten Sohlen seiner Sonntagsschuhe an ihm vorbei und der durchdringende, meckernde Laut der Spielzeugtrompete ließ Harry zusammenzucken.
Fauke antwortete nicht. Harry ging zurück zum Auto und holte das Brecheisen, das er immer hinter dem Fahrersitz liegen hatte, falls das Schloss des Kofferraums mal wieder klemmen sollte. Er ging zurück und legte seine Hand auf alle Klingelknöpfe. Nach ein paar Sekunden erklang eine Kakophonie aufgeregter Stimmen; vermutlich waren alle gestresst und hatten ein Bügeleisen oder Schuhcreme in den Händen. Er sagte, er sei von der Polizei, und der eine oder andere musste ihm geglaubt haben, denn plötzlich summte es energisch, so dass er die Tür aufdrücken konnte. Er nahm vier Stufen auf einmal und hastete die Treppe empor. Dann stand er in der vierten Etage, und sein Herz schlug noch schneller, als es ohnehin schon geschlagenhatte, seit er vor einer Viertelstunde das Bild im Schlafzimmer gesehen hatte.
Die Aufgabe, die ich mir gestellt habe, hat bereits Unschuldigen das Leben gekostet, und natürlich besteht das Risiko, dass es noch mehr werden können. So wird es immer sein im Krieg. Betrachte mich also als Soldaten, dem nicht so viele Wahlmöglichkeiten bleiben. Das ist mein Wunsch. Doch denk daran, dass auch du nur ein fehlbarer Mensch bist, wenn du ein hartes Urteil über mich sprichst, denn für dich wie für mich wird immer gelten, dass wir zu guter Letzt nur einen Richter haben: Gott. Hier sind meine Memoiren.
Harry schlug zweimal mit der Faust gegen Faukes Tür und schrie seinen Namen. Als keine Antwort kam, klemmte er das Brecheisen unter das Schloss zwischen Tür und Rahmen und stemmte sich dagegen. Beim dritten Versuch gab die Tür mit einem Krachen nach. Er trat über die Türschwelle. In der Wohnung war es still und dunkel. Sie erinnerte ihn irgendwie an das Schlafzimmer, in dem er gerade erst gewesen war; sie wirkte so leer, so unendlich verlassen. Warum, begriff er, als er ins Wohnzimmer kam. Sie war verlassen. Alle die Dokumente, die auf dem Boden gelegen hatten, die Bücher in den schiefen Regalen und die halb leeren Kaffeetassen waren verschwunden. Die Möbel waren in eine Ecke geschoben und mit weißen Laken abgedeckt worden. Ein Sonnenstrahl fiel durch das Fenster auf einen Stapel Blätter, die,
Weitere Kostenlose Bücher