Rotkehlchen
konnte, und natürlich hatte ich nicht meinen richtigen Namen genannt. Dennoc h hatte ich nicht gewagt, auf eine Antwort zu hoffen. Ja, ich weiß nicht einmal, ob ich mir tief in meinem Innern wirklich eine Antwort erhoffte, nicht, wenn es eine Antwort war, mit der ich wohl rechnen musste: dass sie verheiratet und Mutter von Kindern sei. Nein, das wollte ich nicht. Obgleich es ja das war, was ich ihr gewünscht hatte, was ich ihr hatte ermöglichen wollen.
Mein Gott! Wir waren damals so jung. Sie erst neunzehn! Und jetzt, da ich den Brief in der Hand hielt, war das Ganze plötzlich so unwirklich, als ob die zierliche Handschrift auf dem Briefumschlag nichts mit der Helena zu tun haben könnte, von der ich sechs Jahre lang geträumt hatte. Ich öffnete den Brief mit zitternden Fingern und zwang mich selbst, das Schlimmste zu erwarten. Es war ein langer Brief, und es ist kaum ein paar Stunden her, dass ich ihn zum ersten Mal gelesen habe, doch ich kann ihn bereits auswendig.
Lieber Urias,
ich liebe dich und ich werde dich immer lieben. Doch das Seltsame ist, dass ich das Gefühl habe, dich bereits mein ganzes Leben zu lieben. Ich musste vor Glück weinen, als ich deinen Brief erhielt, das …
Harry ging mit den Zetteln in der Hand in die Küche, fand den Instantkaffee im Schrank über dem Spülbecken und setzte Wasser für eine Tasse auf, während er weiterlas. über die glückliche, doch auch schwierige und schmerzliche Wiedervereinigung in einem Pariser Hotel. Am nächsten Tag verlobten sie sich.
Nach diesem Tag schrieb Gudbrand immer weniger von Daniel und schließlich schien dieser ganz verschwunden zu sein.
Stattdessen schrieb er über ein verliebtes Pärchen, das wegen des Mordes an Christoph Brockhard noch immer den Atem seiner Verfolger im Nacken spürte. Die beiden hatten heimliche Stelldicheins in Kopenhagen, Amsterdam und Hamburg. Helena kannte Gudbrands neue Identität, doch kannte sie die ganze Wahrheit? Wusste sie etwas von dem Mord an der Front und den Liquidierungen auf dem Fauke-Hof? Es sah nicht so aus.
Sie verlobten sich nach dem Rückzug der Alliierten aus Österreich, und 1955 kehrte sie ihrem Land den Rücken, das, wie sie glaubte,bald wieder von »Kriegsverbrechern, Antisemiten und Fanatikern regiert werden wird, die aus ihren Fehlern nichts gelernt haben«. Sie ließen sich in Oslo nieder, wo Gudbrand, noch immer unter Faukes Namen, sein kleines Geschäft weiterführte. Noch im gleichen Jahr wurden sie von einem katholischen Priester bei einer privaten Feier im Garten im Holmenkollveien getraut. Sie hatten sich dort gerade eine große Villa von dem Geld gekauft, das Helena durch den Verkauf ihrer Wiener Näherei bekommen hatte. Sie waren glücklich.
Harry hörte das Wasser brodeln, ging in die Küche zurück und goss es in die Tasse.
Reichshospital, 1956
107 Helena verlor so viel Blut, dass ihr Leben einen Moment lang in Gefahr war, doch glücklicherweise griffen sie schnell genug ein. Wir haben das Kind verloren. Helena war natürlich untröstlich, obgleich ich immerfort wiederholte, dass sie doch noch so jung sei und wir noch viele Chancen haben würden. Doch der Arzt war leider nicht so optimistisch, die Gebärmutter …
Reichshospital, 12. März 1967
108 Eine Tochter. Sie soll Rakel heißen. Ich weinte und weinte, und Helena strich mir über die Wange und sagte, Gottes Wege seien …
Harry saß wieder im Wohnzimmer und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Warum war er nicht gleich darauf gekommen, als er das Bild von Helena in Beatrice’ Zimmer gesehen hatte? Mutter und Tochter. Er konnte nicht richtig bei der Sache gewesen sein. Vermutlich war es genau das – er war nicht bei der Sache. Er sah Rakel überall: auf der Straße in den Gesichtern der entgegenkommenden Frauen, in zehn Fernsehsendern, wenn er sich durch die Kanäle zappte, und hinter dem Tresen eines Cafés. Warum sollte er also besondersaufmerksam werden, wenn er ihr Gesicht auch in dem Mitfitz einer schönen Frau auf einer alten Fotografie erkannte?
Sollte er Mosken anrufen, um bestätigt zu bekommen, was Gudbrand Johansen alias Sindre Fauke geschrieben hatte? Nicht jetzt.
Er sah noch einmal auf die Uhr. Warum tat er das? Was trieb ihn anderes als seine Verabredung mit Rakel um elf Uhr? Ellen hätte darauf sicher eine Antwort gewusst, doch sie war nicht da, und er hatte jetzt keine Zeit, sich selbst eine Antwort auszudenken. Genau, nicht die Zeit.
Er blätterte weiter, bis er
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