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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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gehört hast.« »Du Lügner.«
    Urias zog sie an sich und sang ihr leise ins Ohr:
     
    Tritt ans Feuer in den Kreis der Kameraden,
    sieh in die Flammen, so golden und rot,
    wollen wir weiter mit Siegen uns laden,
    braucht es Treue auf Leben und Tod.
    In der Flammen leuchtendem Spiel
    siehst du Norwegens alte Zeit,
    Mann und Frau, sie streben zum Ziel,
    dein Volk in Arbeit und Streit.
     
    Siehst unsere Väter um die Freiheit ringen,
    Opfer bringen, Frau und Mann,
    Tausend um Tausend ihr Leben bringen,
    für den Kampf um unser Land.
    Siehst Männer ihr Tagwerk verrichten,
    in diesem Land im harten Norden,
    und mit Arbeit und Kraft
    für den Schutz unsrer Erd und Heimat sorgen.
     
    Siehst Norweger, deren Namen und Wort in
    Sagen und Liedern leuchten und singen und
    denen man in Süd und Nord
    jahrein, jahraus Ehr will erbringen,
    doch der Größte der Großen war der eine,
    der sie hisste, die rotgelbe Fahne,
    auf dass uns unser Feuer, das deine und meine,
    an unseren Führer Quisling gemahne.
     
    Urias wurde still und starrte wie abwesend aus dem Fenster. Helena verstand, dass seine Gedanken weit weg waren, und ließ ihn in Ruhe. Sie legte ihre Arme um seinen Oberkörper.
    Ratterta-Ratterta-Ratterta
    Es hörte sich an, als liefe jemand unter ihnen auf den Schienen, jemand, der sie zurückzuhalten versuchte.
    Sie hatte Angst. Nicht so sehr vor dem Unbekannten, das vor ihr lag, sondern vor dem unbekannten Mann, an den sie sich schmiegte. Jetzt, da er so nah war, schien all das, was sie aus der Ferne gesehen hatte und was ihr so vertraut geworden war, entschwunden zu sein.
    Sie lauschte seinen Herzschlägen, doch das Geratter der Schienen war zu laut. Sie konnte nur hoffen, dass sich dort drinnen ein Herz befand. Sie lächelte über sich selbst und ein freudiger Schauer lief durch ihren Körper. Wie herrlich, herrlich verrückt sie war! Sie wusste absolut nichts von ihm, er hatte so wenig über sich selbst gesprochen, sondern immer nur diese Geschichten erzählt.
    Seine Uniform roch nach Stockflecken, und einen Augenblick lang dachte sie daran, dass so auch die Uniformen der Männer riechen mussten, die eine Weile tot auf dem Schlachtfeld gelegen hatten. Oder die beerdigt worden waren. Doch wo kamen diese Gedanken her? Sie war die ganze Zeit so angespannt gewesen, dass sie erst jetzt bemerkte, wie müde sie war.
    »Schlaf ein wenig«, sagte er als Antwort auf ihre Gedanken.
    »Ja«, erwiderte sie. Sie glaubte in der Ferne einen Fliegeralarm zu hören, als die Welt um sie herum verschwand.
     
    »Was?«
    Sie hörte ihre eigene Stimme, spürte, dass Urias sie schüttelte, und schrak auf. Als sie den uniformierten Mann in der Abteiltür sah,dachte sie zuerst, sie seien verloren, wieder eingefangen von ihren Häschern.
    »Die Fahrscheine, bitte.«
    »Oh«, entfuhr es ihr. Sie versuchte, sich zusammenzureißen, spürte aber den prüfenden Blick des Schaffners auf sich, während sie fieberhaft ihre Tasche durchwühlte. Dann fand sie endlich die gelben Pappbilletts, die sie in Wien gekauft hatte, und reichte sie ihm Er kontrollierte sie, während er sich im Gleichklang mit dem Schwanken des Zuges hin und her bewegte. Es dauerte ein wenig länger, als es Helena lieb war.
    »Sie wollen nach Paris?«, fragte er. »Gemeinsam?«
    »Das wollen wir«, sagte Urias.
    Der Schaffner war ein älterer Mann. Er sah die zwei an. »Sie sind kein Österreicher, wie ich höre.«
    »Nein, Norweger.«
    »Oh, Norwegen, dort soll es schön sein, habe ich gehört.« »Ja, das stimmt.«
    »Dann haben Sie sich freiwillig gemeldet, um für Hitler zu kämpfen?«
    »Ja, ich war an der Ostfront, im Norden.«
    »Ach ja? Wo denn da?«
    »Bei Leningrad.«
    »Und jetzt wollen Sie nach Paris. Gemeinsam mit Ihrer …?« »Freundin.«
    »Freundin, genau. Dann sind Sie auf Fronturlaub?«
    »Ja.«
    Der Schaffner knipste die Fahrscheine ab.
    »Aus Wien?«, fragte er Helena und reichte ihr die Billetts. Sie nickte.
    »Ich sehe, Sie sind Katholikin«, sagte er und deutete auf das Kruzifix, das sie an einer Kette auf der Bluse trug. »Wie meine Frau.«
    Er beugte sich nach hinten und blickte über den Gang des Wagens. Dann fragte er, an Urias gewandt:
    »Hat Ihnen Ihre Freundin den Stephansdom in Wien gezeigt?« »Nein. Ich habe im Krankenhaus gelegen und leider nicht so viel von der Stadt zu sehen bekommen.«
    »Aha, dann war das sicher ein katholisches Krankenhaus, nicht wahr?«
    »Ja, das Rudo …«
    »Ja«, fiel ihm Helena ins Wort. »Ein katholisches

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