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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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Krankenhaus.« »Hm.«
    Warum wollte der Schaffner nicht gehen?, fragte sich Helena. Der Mann räusperte sich wieder.
    »Ja?«, fragte Urias schließlich.
    »Es geht mich ja nichts an, aber ich hoffe, Sie haben daran gedacht, Ihre Urlaubsbescheinigung mitzunehmen.«
    »Urlaubsbescheinigung?«, fragte Helena. Sie war bereits zweimal mit ihrem Vater nach Frankreich gereist und war nicht auf die Idee gekommen, dass sie andere Papiere als ihre Ausweise benötigen könnten.
    »Ja, für Sie ist das kein Problem, Fräulein, doch für Ihren Freund in Uniform ist es von größter Bedeutung, dass er Papiere bei sich führt, aus denen hervorgeht, wo er stationiert ist und wohin er will.«
    »Aber natürlich haben wir die«, versicherte sie hastig. »Sie glauben doch nicht etwa, dass wir uns ohne sie auf den Weg gemacht haben?«
    »Nein, nein«, beeilte sich der Schaffner zu sagen. »Ich wollte Sie nur daran erinnern. Es ist gerade erst ein paar Tage her …«
    Er blickte jetzt den Norweger an.
    »… da haben sie einen jungen Mann geschnappt, der keine Papiere für den Ort hatte, an den er wollte, und natürlich sind sie davon ausgegangen, einen Deserteur vor sich zu haben. Sie haben ihn mit auf den Bahnsteig genommen und erschossen.«
    »Ist das Ihr Ernst?«
    »Leider, ja. Ich wollte Sie damit nicht erschrecken, aber Krieg ist Krieg. Aber bei Ihnen ist ja alles in Ordnung, Sie müssen sich also keine Sorgen machen, wenn Sie kurz hinter Salzburg an den deutschen Grenzübergang kommen.«
    Der Wagen machte einen kleinen Schlenker und der Schaffner musste sich am Türrahmen festhalten. Die drei Menschen sahen sich stumm an.
    »Das ist dann die erste Kontrolle«, fragte Urias schließlich, »hinter Salzburg?«
    Der Schaffner nickte.
    »Danke«, sagte Urias.
    Der Schaffner räusperte sich.
    »Ich hatte einen Sohn in Ihrem Alter. Er ist an der Ostfront gefallen. Bei Dnerp.«
    »Das tut mir Leid.«
    »Nun ja, entschuldigen Sie, dass ich Sie geweckt habe, junges Fräulein. Mein Herr.«
    Er legte die Hand an die Mütze und war verschwunden.
    Helena überprüfte, dass die Tür wirklich geschlossen war. Dann verbarg sie ihr Gesicht in den Händen.
    »Wie konnte ich so naiv sein«, schluchzte sie.
    »Na, na«, sagte er und legte ihr den Arm um die Schulter. »Ich hätte an diese Bescheinigung denken müssen. Ich wusste doch, dass ich mich nicht einfach frei bewegen darf.«
    »Und wenn du ihnen sagst, dass du krankgeschrieben bist und Lust auf eine Reise nach Paris hattest? Das ist doch ein Teil des Dritten Reiches, das ist doch …«
    »Dann werden sie das Krankenhaus anrufen, und Brockhard wird ihnen sagen, dass ich abgängig bin.«
    Sie lehnte sich an ihn und weinte in seinem Schoß. Er strich ihr über die glatten braunen Haare.
    »Außerdem hätte ich wissen müssen, dass das zu fantastisch ist, um wahr zu sein«, sagte er. »Ich meine – ich und Schwester Helena in Paris.«
    Sie hörte das Lächeln in seiner Stimme.
    »Nein, ich werde wohl bald in meinem Krankenbett aufwachen und denken, herrje, was für ein Traum! Und mich darauf freuen, dass du mit dem Frühstück kommst. Außerdem hast du morgen Nachtdienst, das hast du doch wohl nicht vergessen? Dann kann ich dir erzählen, wie Daniel den Schweden zwanzig Essensrationen geklaut hat.«
    Sie streckte ihm ihr tränennasses Gesicht entgegen.
    »Küss mich, Urias.«
     
    Siljan, Telemark, 22. Februar 2000
     
    28 Harry sah noch einmal kurz auf die Uhr und gab dann vorsichtig mehr Gas. Der Termin war um vier Uhr gewesen, also vor einer halben Stunde. Kam er erst nach Einbruch der Dämmerung, wäre die ganze Tour umsonst gewesen.Was noch an Spikes aus dem Gummi der Reifen ragte, grub sich mit einem kratzenden Laut ins Eis. Obgleich er erst vierzig Kilometer über diese kurvige vereiste Landstraße gefahren war, kam es ihm so vor, als sei es bereits Stunden her, dass er die Hauptstraße verlassen hatte. Die billige Sonnenbrille, die er an der Shell-Tankstelle gekauft hatte, war auch nicht von großem Nutzen Seine Augen brannten von dem hellen Schneelicht.
    Schließlich erblickte er den Polizeiwagen mit dem Skiener Kennzeichen am Straßenrand. Er bremste behutsam, parkte unmittelbar dahinter und nahm die Skier vom Dach. Sie stammten von einem Skihersteller aus der Gegend von Trondheim, der vor fünfzehn Jahren in Konkurs gegangen war. Ungefähr in der Zeit musste Harry auch dieses Wachs aufgetragen haben, das jetzt als graue zähe Masse unter den Skiern haftete. Er fand die Spuren, die

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