Rotkehlchen
hinein und sag mir, ob du Licht siehst.«
Harry hörte Folldal hinter sich schnauben. Bertelsen legte sein Auge an das Loch.
»Jesus Maria …«
»Siehst du was?«, rief Folldal.
»Ob du’s glaubst oder nicht, ich sehe den ganzen Fluss.«
Harry wandte sich an Folldal, der sich umgedreht hatte und auf den Boden spuckte.
Bertelsen rappelte sich auf. »Was nützt dir eine schusssichere Weste, wenn du von so einer Kugel getroffen wirst?«, stöhnte er.
»Nichts«, erwiderte Harry. »Das Einzige, was da noch hilft, ist ein Panzer.« Er drückte seine Zigarette auf dem trockenen Stumpf aus und korrigierte sich: »Ein dicker Panzer.«
Er blieb stehen und rieb seine Skier über den Schnee unter sich.
»Wir sollten mal mit den Leuten in der Nachbarhütte reden«, meinte Bertelsen. »Vielleicht hat jemand was gesehen. Oder muss gestehen, im Besitz einer solchen Höllenwaffe zu sein.«
»Nach der Waffenamnestie letztes Jahr …«, begann Folldal, doch er verstummte, als er bemerkte, dass Bertelsen ihn ansah.
»Können wir sonst noch etwas für Sie tun?«, fragte Bertelsen Harry.
»Ja«, sagte Harry und schielte finster in Richtung Straße. »Etwas dagegen, ein Auto anzuschieben?«
Rudolph .11. Hospital, Wien, 23. Juni 1944
29 Helena Lang hatte ein Déjà-vu -Erlebnis. Die Fenster standen auf und der warme Sommermorgen erfüllte die Korridore mit dem Duft frisch geschnittenen Grases. In den letzten zwei Wochen waren jede Nacht Bomben gefallen, doch sie roch keinen Rauch. Sie hielt einen Brief in den Händen. Einen wunderbaren Brief! Sogar die verbitterte Oberschwester musste lächeln, als Helena ihr »guten Morgen« zurief.
Doktor Brockhard blickte überrascht von seinen Papieren auf, als Helena ohne anzuklopfen in sein Büro stürmte.
»Nun?«, fragte er.
Er nahm seine Brille ab und richtete seinen starren Blick auf sie. Für einen kurzen Moment sah sie seine nasse Zunge, ehe seine Lippen den Brillenbügel umschlossen. Sie setzte sich.
»Christopher«, begann sie. Sie hatte seinen Vornamen nicht mehr benutzt, seit sie Kinder gewesen waren. »Ich muss dir etwas erzählen.« »Schön«, sagte er. »Genau darauf warte ich.«
Sie wusste, worauf er wartete: eine Erklärung, warum sie seinem Wunsch, ihn in seiner Wohnung im Hauptgebäude des Krankenhausareals zu besuchen, noch nicht nachgekommen war, obgleich er die Krankmeldung bereits zum zweiten Mal verlängert hatte. Helena hatte das auf die Bomben geschoben und gesagt, sie könne es nicht wagen, vor die Tür zu treten. Daraufhin hatte er sich erboten, sie im Sommerhaus ihrer Mutter zu besuchen, was sie aber entschieden abgelehnt hatte.
»Ich werde dir alles erzählen«, sagte sie.
»Alles?«, fragte er mit einem schwachen Lächeln.
Nein, dachte sie. Fast alles.
»An dem Morgen, als Urias …«
»Er heißt nicht Urias, Helena.«
»Erinnerst du dich an den Morgen, an dem er verschwunden war und ihr Alarm geschlagen habt?«
»Natürlich.«
Brockhard legte seine Brille neben den Zettel, der vor ihm lag. Der Bügel der Brille beschrieb eine exakte Parallele zum Rand des Blattes. »Ich habe darüber nachgedacht, sein Verschwinden der Militärpolizei zu melden. Aber dann tauchte er ja mit dieser Geschichte auf, er habe sich die halbe Nacht im Wald herumgetrieben.«
»Das hat er nicht. Er ist mit dem Nachtzug aus Salzburg gekommen.«
»Was?« Brockhard lehnte sich im Stuhl zurück Er verzog keine Miene; er liebte es nicht, seine Überraschung zu zeigen.
»Am Abend hatte er den Spätzug aus Wien genommen. In Salzburg hat er anderthalb Stunden gewartet und ist dann mit dem Nachtzug wieder zurückgefahren. Um neun Uhr war er am Hauptbahnhof.«
»Hm.« Brockhard konzentrierte sich auf den Stift, den er in den Händen hielt. »Und warum hat er eine derart idiotische Reise unternommen?«
»Tja«, sagte Helena, ohne sich bewusst zu sein, dass sie lächelte. »Du erinnerst dich vielleicht daran, dass auch ich an diesem Morgen zu spät gekommen bin.«
»Äh …«
»Auch ich bin aus Salzburg gekommen.«
»Was du nicht sagst.«
»Doch.«
»Das musst du mir jetzt aber erklären, Helena.«
Sie tat es und beobachtete dabei Brockhards Fingerkuppen. Ein Blutstropfen hatte sich unmittelbar unter der Feder gebildet.
»Ich verstehe«, sagte Brockhard, als sie geendet hatte. »Ihr wolltet also nach Paris. Und wie lange dachtet ihr euch da verstecken zu können?«
»Es ist wohl deutlich geworden, dass wir nicht allzu viel nachgedacht haben. Aber Urias meinte,
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