Rotkehlchen
wir sollten in die USA gehen. Nach New York«
Brockhard lachte trocken. »Du bist doch ein vernünftiges Mädchen,Helena. Ich begreife ja, dass dich dieser Landesverräter mit seinen groben Lügen über Amerika verwirrt hat. Aber weißt du was?«
»Nein.«
»Ich vergebe dir.«
Und als er ihren überraschten Gesichtsausdruck wahrnahm, fuhr er fort: »Ja, ich vergebe dir. Man sollte dich vielleicht bestrafen, aber ich weiß, wie rastlos junge Mädchenherzen manchmal sein können.«
»Ich will keine Vergebung, ich …«
»Wie geht es deiner Mutter? Das muss hart für sie sein, jetzt, wo ihr allein seid. Hat dein Vater nicht drei Jahre bekommen?«
»Vier. Sei so gut und hör mir zu, Christopher.«
»Ich bitte dich, jetzt nichts zu sagen oder zu tun, was du hinterher bereuen könntest, Helena. Was du bis jetzt gesagt hast, ändert nichts an unserer Abmachung. Es bleibt alles beim Alten.«
»Nein!« Helena war so heftig aufgesprungen, dass der Stuhl hinter ihr umstürzte, und knallte ihm den Brief, den sie in den Händen zerknüllt hatte, auf den Schreibtisch.
»Sieh selbst! Du hast keine Macht mehr über mich, oder über Urias.«
Brockhard warf einen Blick auf das Schreiben. Das braune offene Kuvert sagte ihm nichts. Er fischte den Zettel heraus, setzte seine Brille auf und begann zu lesen:
Waffen-SS
Berlin, 21. Juni
Wir haben ein Anschreiben vom Oberkommandierenden des norwegischen Polizeidepartements, Jonas Lie, erhalten, Sie sobald als möglich für Ihren weiteren Dienst an die Polizei in Oslo abzukommandieren. Ausgehend davon, dass Sie norwegischer Staatsbürger sind, sehen wir keinen Grund, diesem Wunsch nicht nachzukommen. Dieser Befehl entkräftet damit alle früheren Marschbefehle sowie die Überstellung zur Wehrmacht. Genauere Angaben über Ort und Zeit werden Ihnen vom norwegischen Polizeidepartement mitgeteilt werden.
Heinrich Himmler,
Oberkommandierender der Schutzstaffel (SS)
Brockhard musste sich die Unterschrift zweimal anschauen. Heinrich Himmler persönlich! Dann hielt er das Schreiben gegen das Licht.
»Ruf doch an und lass es auf seine Echtheit überprüfen, aber glaub mir, es ist echt«, sagte Helena spitz.
Durch das offene Fenster hörte er das Vogelgezwitscher aus dem Garten. Er räusperte sich zweimal, ehe er antwortete:
»Ihr habt also einen Brief an den Polizeipräsidenten in Oslo geschrieben?«
»Nicht ich, Urias. Ich habe nur die Adresse herausgefunden und den Brief eingeworfen.«
»Du hast ihn eingeworfen?«
»Ja, das heißt nein, ich habe telegrafiert.«
»Einen ganzen Brief?«
»Ja.«
»Soso. Das muss ein Vermögen gekostet haben.«
»Ja, das hat es, aber es eilte ja.«
»Heinrich Himmler …«, sagte er mehr zu sich selbst als zu ihr. »Es tut mir Leid, Christopher.«
Wieder dieses trockene Lachen.
»Ach ja? Hast du nicht genau das erreicht, was du wolltest, Helena?«
Sie überhörte die Frage und zwang sich dazu, freundlich zu lächeln.
»Ich möchte dich um einen Gefallen bitten, Christopher.« »Ja?«
»Urias möchte, dass ich mit ihm nach Norwegen reise. Ich brauche ein Empfehlungsschreiben vom Krankenhaus, um eine Ausreisegenehmigung zu bekommen.«
»Und jetzt hast du Angst, ich könnte dir einen Strich durch die Rechnung machen?«
»Dein Vater sitzt im obersten Rat des Krankenhauses.«
»Ja, ich könnte dir Probleme bereiten.« Er rieb sich das Kinn. Sein steifer Blick hatte sich auf einen Punkt auf ihrer Stirn gerichtet. »Du kannst uns aber auf keinen Fall aufhalten, Christopher. Urias und ich lieben uns. Verstehst du?«
»Warum sollte ich einem Soldatenflittchen einen Gefallen tun?«
Helenas Mund blieb offen stehen. Obgleich sie ihn verachtete und obgleich sie wusste, dass er im Affekt sprach, traf sie das Wort wieeine Ohrfeige. Doch noch ehe sie antworten konnte, verzog Brockhard sein Gesicht, als hätte ihn selbst diese Ohrfeige getroffen.
»Verzeih mir, Helena. Ich … verdammt’« Er drehte ihr abrupt den Rücken zu.
Am liebsten wäre Helena gegangen, doch sie fand nicht die passenden Worte, um sich loszureißen. Seine Stimme klang angestrengt, als er fortfuhr:
»Ich wollte dir nicht wehtun, Helena.«
»Christopher …«
»Du verstehst nicht. Ich sage das nicht aus Hochmut, doch ich habe Qualitäten, die auch du mit der Zeit hättest schätzen lernen können. Vielleicht bin ich zu weit gegangen, aber denk daran, dass ich die ganze Zeit über nur dein Bestes im Sinn hatte.«
Sie starrte auf seinen Rücken. Der Arztkittel
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