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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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Hand. »Genau wie es dieser Krieg einmal sein wird.«
    Der Kellner hatte sich unbemerkt dem Tisch genähert und räusperte sich diskret, um auf seine Anwesenheit aufmerksam zu machen. »Möchten die Herrschaften etwas bestellen?«
    »Ich glaube, ja«, antwortete Urias. »Was können Sie heute empfehlen?«
    »Hähnchen.«
    »Kleine Hähne? Hört sich gut an. Vielleicht möchten Sie uns einen guten Wein empfehlen? Helena?«
    Helenas Augen suchten die Speisekarte ab.
    »Warum stehen da keine Preise?«, fragte sie.
    »Der Krieg, Fräulein. Sie ändern sich von Tag zu Tag.«
    »Und was kosten die Hähnchen?«
    »Fünfzig Schilling.«
    Aus den Augenwinkeln sah Helena, wie blass Urias wurde.
    »Ich habe Appetit auf Gulaschsuppe«, sagte sie schnell. »Wir haben doch gerade gegessen, und ich habe gehört, Sie verständen sich hier so gut auf ungarische Rezepte. Willst du sie nicht auch kosten, Urias? Zwei große Essen am Tag sind doch nicht gesund.«
    »Ich …«, begann Urias.
    »Und einen leichten Wein«, fügte Helena hinzu.
    »Zwei Gulaschsuppen und einen leichten Wein?«, fragte der Kellner mit hochgezogenen Augenbrauen.
    »Sie haben mich sicher verstanden.« Sie gab ihm die Speisekarte und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Herr Ober.«
    Sie sahen sich in die Augen, bis der Kellner in der Küche verschwunden war, dann brachen sie in Gelächter aus.
    »Du bist verrückt!«, lachte er.
    »Ich? Ich hab dich doch nicht mit weniger als fünfzig Schilling in der Tasche ins ›Drei Husaren‹ zum Essen eingeladen!«
    Er holte ein Taschentuch hervor und beugte sich über den Tisch nach vorn. »Wissen Sie was, Fräulein Lang?«, fragte er, während er ihr die Freudentränen von der Wange tupfte. »Ich liebe Sie. Ja wirklich, das tue ich.«
    In diesem Moment ging der Fliegeralarm los.
     
    Wenn Helena später an diesen Abend zurückdachte, fragte sie sich oft, ob ihre Erinnerung sie nicht trog, ob die Bomben wirklich so dicht gefallen waren, wie sie glaubte, und ob sich wirklich alle umgedreht hatten, als sie den Mittelgang im Stephansdom entlang gegangen waren. Doch obgleich diese Nacht in Wien wie von einem unwirklichen Schleier verhüllt war, hinderte sie das nicht daran, sich an kalten Tagen ihr Herz mit den glücklichen Erinnerungen zu wärmen. Immer wieder dachte sie an den kurzen Augenblick in dieser Sommernacht zurück. Manchmal musste sie dann lachen, während ihr an anderen Tagen Tränen über die Wangen rollten, ohne dass sie jemals hätte sagen können, warum sie so reagierte.
    Als der Fliegeralarm losging, verstummten alle anderen Geräusche. Eine Sekunde lang erstarrte das ganze Restaurant wie zu Eis,dann erschallten die ersten Flüche unter dem vergoldeten Deckengewölbe.
    »Diese Hunde!«
    »Verflucht! Es ist doch erst acht!«
    Urias schüttelte den Kopf.
    »Die Engländer müssen verrückt sein«, sagte er. »Es ist ja noch nicht einmal dunkel.«
    Plötzlich standen an allen Tischen Kellner, während der Oberkellner von Tisch zu Tisch ging und irgendwelche kurzen Anweisungen gab.
    »Sieh mal«, sagte Helena. »Da liegt bald das ganze Restaurant in Trümmern, und die denken an nichts anderes als daran, dass auch jeder Gast seine Rechnung zahlt, ehe er sich in Sicherheit bringt.«
    Ein Mann in einem dunklen Anzug kletterte aufs Podium, wo das Orchester seine Instrumente zusammenpackte.
    »Hören Sie bitte!«, rief er. »Wir ersuchen alle, die bereits bezahlt haben, sich sogleich in den nächsten Schutzraum zu begeben. Er befindet sich neben der Weihburggasse 20. Bitte Ruhe, hören Sie mir zu! Wenn Sie nach draußen kommen, gehen Sie nach rechts und dann zweihundert Meter die Straße hinunter. Achten Sie auf die Männer mit den roten Armbinden, die werden Ihnen zeigen, wo Sie hinmüssen. Und keine Panik, es dauert noch eine Weile, bis die Flugzeuge hier sind.«
    Im gleichen Moment war der erste Einschlag zu hören. Der Mann auf dem Podium versuchte noch etwas zu sagen, doch die Stimmen und Schreie im Restaurant übertönten ihn. Er gab auf, bekreuzigte sich, sprang vom Podium und verschwand.
    Menschen hasteten zum Ausgang, vor dem sich bereits zahlreiche, von Angst gezeichnete Menschen zusammendrängten. An der Garderobe stand eine Frau und schrie: »Mein Regenschirm«, doch es war keine Garderobiere mehr zu sehen. Eine erneute Detonation, dieses Mal näher. Helena sah zu dem verlassenen Nachbartisch hinüber, auf dem zwei halb volle Weingläser aneinander klirrten, als der Raum erzitterte. Ein hoher

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