Rotkehlchen
Krieg.«
Brockhard nickte und warf einen ungeduldigen Blick in Richtung Stalltür.
»Sie erinnern sich genau, Helena. Das ist löblich. Christopher kann jemanden mit einem guten Kopf gebrauchen. Da er hin und wieder den seinen verliert, meine ich. Ansonsten ist er ein guter Junge, das werden Sie schon merken.«
Helena spürte, wie ihr Herz heftiger zu schlagen begann. Sollte doch etwas schief laufen? Brockhard senior sprach zu ihr wie zu einer zukünftigen Schwiegertochter. Sie spürte jedoch, dass sie nicht ängstlich, sondern wütend wurde. Als sie wieder sprach, wollte sie eigentlich einen freundlicheren Ton anschlagen, aber die Wut hatte sich wie ein Würgegriff um ihre Kehle gelegt und ließ ihre Stimme hart und metallisch klingen:
»Ich hoffe, da ist kein Missverständnis entstanden, Herr Brockhard.«
Brockhard musste den Klang ihrer Stimme bemerkt haben, auf jeden Fall war nicht mehr viel von der Wärme verblieben, mit der er sie empfangen hatte, als er erwiderte: »Dann sollten wir dieses Missverständnis aus dem Weg räumen. Ich möchte gerne, dass Sie einen Blick auf dieses Dokument werfen.«
Er zog ein Blatt Papier aus der Innentasche seiner roten Jacke, entfaltete ihn und reichte ihn ihr.
Bürgschaft stand ganz oben auf dem Dokument, das wie ein Vertrag aussah. Ihre Augen huschten über die enge Schrift. Sie verstand nicht viel von alldem, außer dass das Haus ihrer Eltern im Wienerwald erwähnt wurde und dass der Name ihres Vaters und der von André Brockhard sowie deren Unterschriften auf dem Blatt standen. Sie sah ihn fragend an.
»Eine Bürgschaft«, sagte sie.
»Genau«, nickte er. »Als Ihr Vater erkannte, dass die Kredite der Juden eingezogen werden würden und damit auch die seinen, kam er zu mir und bat mich um eine Bürgschaft für einen größeren Refinanzierungskredit in Deutschland. Leider war ich so weich und ließ mich breitschlagen. Ihr Vater war ein stolzer Mann, und damit die Bürgschaft nicht wie ein bloßer Gefallen aussah, bestand er darauf, dass die Sommerresidenz, in der Sie und Ihre Mutter jetzt wohnen, als Sicherheit für die Bürgschaft eingesetzt wurde.«
»Warum für die Bürgschaft und nicht für den Kredit?« Brockhard sah sie überrascht an.
»Gute Frage. Der Wert des Hauses war nicht groß genug für den Kredit, den Ihr Vater benötigte.«
»Aber André Brockhards Unterschrift reichte aus?«
Er lächelte und fuhr sich mit einer Hand über seinen breiten Stiernacken, auf dem eine dünne Schweißschicht glänzte.
»Ich habe das eine oder andere Besitztum in Wien.«
Eine grobe Untertreibung. Jeder wusste, dass André Brockhard gewaltige Aktienanteile an zwei der größten österreichischen Industriegesellschaften besaß. Nach dem Anschluss – Hitlers Einmarsch 1938 – hatte die Gesellschaft ihre Produktion von Werkzeug und Maschinen auf Waffen umgestellt und Brockhard war vielfacher Millionär geworden. Und jetzt wusste Helena, dass ihm auch das Haus gehörte, in dem sie wohnte. Sie spürte, wie sich ein harter Klumpen in ihrem Bauch bildete.
»Aber machen Sie doch nicht so ein bekümmertes Gesicht, meine liebe Helena«, sagte Brockhard, nun wieder mit Wärme in der Stimme. »Ich denke doch nicht daran, Ihrer Frau Mutter das Haus zu nehmen.«
Doch der Klumpen in Helenas Bauch wurde größer. Ebenso gut hätte er hinzufügen können: »Oder meiner eigenen Schwiegertochter.« »Venezia!«, platzte er plötzlich heraus.
Helena wandte sich zur Stalltür, wo der Stalljunge aus dem Schatten trat und ein leuchtend weißes Pferd herausführte. Obgleich ein wahrer Gedankensturm durch Helenas Kopf raste, vergaß sie bei diesem Anblick für einen kurzen Augenblick all ihre Sorgen. Das war das schönste Pferd, das sie jemals gesehen hatte. Wie ein überirdisches Geschöpf stand es vor ihr.
»Ein Lipizzaner«, erklärte Brockhard. »Die bestdressierte Pferderasse der Welt. 1562 von Maximilian II. aus Spanien importiert. Sie waren doch sicher mit Ihrer Mutter schon einmal in der Spanischen Reitschule und haben sich die Dressurvorführungen angeschaut, nicht wahr?«
»Ja, natürlich.«
»Das ist wie Ballett, finden Sie nicht auch?«
Helena nickte. Sie konnte ihre Augen nicht von dem Tier losreißen.
»Bis Ende August sind die hier im Lainzer Tiergarten und machen Sommerferien. Leider dürfen die Tiere nur von den Reitern der Spanischen Reitschule geritten werden. Untrainierte Reiter könnten ihnen Fehler beibringen. Jahre exaktester Dressurarbeit könnten dann
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