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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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Buchstaben und Zeichen verrieten, dass sie aus fernen Gefilden stammten: Taiwan, Buenos Aires oder Kapstadt. Harry stand an der Kaimauer und schloss die Augen, während er den Genich von Salzwasser, sonnengewärmtem Teer und Diesel wahrnahm. Als er sie wieder öffnete, glitt die Dänemarkfähre in sein Blickfeld. Sie sah aus wie ein Kühlschrank. Ein Kühlschrank, der immer die gleichen Menschen in einem zeitvertreiberischen Pendelverkehr hin-und hertransportierte.
    Er wusste, dass es zu spät war, um noch Spuren von dem Treffen zwischen Hochner und Urias zu finden; ja es war nicht einmal sicher, dass sie sich an diesem Containerhafen getroffen hatten. Ebenso gut hätte es Filipstad gewesen sein können. Trotzdem hatte er gehofft, der Ort könne ihm etwas sagen, seiner Phantasie den notwendigen Impuls geben.
    Er trat an einen Reifen, der über die Kaimauer hinausragte. Vielleicht sollte er sich ein Boot anschaffen, so dass er im Sommer mit Vater und Sohn aufs Meer hinausfahren konnte? Der Vater musste ein bisschen rauskommen, der früher so gesellige Mann war seit Mamas Tod vor acht Jahren ein richtiger Einsiedler geworden. Und See kam ohne fremde Hilfe nicht weit, auch wenn man oft vergessen konnte, dass sie unter dem Down-Syndrom litt.
    Ein Vogel tauchte zwischen den Containern hinab. Blaumeisen fliegen mit bis zu achtundzwanzig Kilometern pro Stunde. Das hatte ihm Ellen erzählt. Stockenten mit bis zu zweiundsechzig. Beide kamen etwa gleich gut zurecht. Nein, das mit Søs war nicht gefährlich, um Vater machte er sich größere Sorgen.
    Harry versuchte, sich zu konzentrieren. Alles, was Hochner gesagt hatte, hatte er in seinem Bericht vermerkt, Wort für Wort, doch jetzt versuchte er, sich an sein Gesicht zu erinnern, um herauszufinden,was dieser Mann nicht gesagt hatte. Wie sah Urias aus? Viel hatte Hochner nicht sagen können, doch wenn man eine Person beschreiben soll, beginnt man in der Regel mit dem Auffälligsten, mit dem, was diesen Menschen von anderen unterscheidet. Und das Erste, was Hochner an Urias aufgefallen war, waren dessen blaue Augen gewesen. Wenn Hochner blaue Augen an sich nicht als etwas Spezielles betrachtete, musste das heißen, dass Urias weder eine sichtbare Behinderung hatte noch irgendwie absonderlich sprach oder ging. Er sprach sowohl deutsch als auch englisch und war an einem Ort in Deutschland gewesen, der Sennheim hieß. Harry sah der Dänemarkfähre nach, die in Richtung Diebalz glitt. War Urias ein Seemann? Schwer zu glauben. Harry hatte in einem Atlas nachgeschaut, sogar in einem für Deutschland, hatte aber kein Sennheim finden können. Vielleicht hatte Hochner das einfach erfunden. Vermutlich unwichtig.
    Hochner hatte gesagt, dass Urias voller Hass gewesen sei. Dann war seine Vermutung vielleicht richtig, dass die Person, nach der sie suchten, ein persönliches Motiv hatte. Doch was hasste er?
    Die Sonne verschwand hinter dem Höhenzug. Die Brise vom Oslofjord frischte sofort auf und wurde kalt. Harry schlang den Mantel enger um sich und ging in Richtung Auto zurück. Und die halbe Million, hatte Urias die von einem Auftraggeber oder war das ein Kauf mit eigenem Geld?
    Er nahm das Mobiltelefon. Ein Nokia, winzig klein, erst zwei Wochen alt. Er hatte sich lange dagegen gewehrt, doch Ellen hatte ihn schließlich überredet, sich eins anzuschaffen. Er wählte ihre Nummer.
    »Hei, Ellen, ich bin’s, Harry. Bist du allein? Okay. Konzentrier dich mal, bitte. Ja, wir machen das Spiel, bist du bereit?«
    Sie hatten das schon oft gemacht. »Das Spiel« lief so, dass er ihr Stichworte gab. Keine Hintergrundinformation, keinen Hinweis, wo es in seiner Gedankenkette hakte, nur Bruchstücke von Informationen, ein bis fünf Worte lang, in zufälliger Reihenfolge. Sie hatten diese Methode mit der Zeit entwickelt. Die wichtigste Regel war, dass es mindestens fünf Hinweise sein mussten, aber auch nicht mehr als zehn Harry war auf diese Idee gekommen, nachdem er mit Ellen um einen Nachtdienst gewettet hatte. Er hatte nicht geglaubt, dass es Ellen gelingen würde, sich an die Reihenfolge der Karten in einemKartenspiel zu erinnern, das sie nur zwei Minuten lang betrachtet hatte, also zwei Sekunden pro Karte. Er hatte drei Nachtdienste verloren, ehe er sich geschlagen gab. Danach hatte sie ihm die Methode erklärt, mit der sie sich erinnerte. Sie sah die Karten nicht als Karten an, sondern hatte von vornherein eine Person oder ein Geschehnis mit jeder Karte verknüpft. Auf diese Weise entstand

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