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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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müsse die Seine werden, und dass sie geflüstert hatte »ja, ja, ja«, während das Kirchenschiff die Worte aufnahm und sie unter der hohen Decke emporwarf zu den Tauben und dem Gekreuzigten, wo die Worte immer wieder erklangen, bis sie wahr sein mussten? Ob es geschehen war oder nicht – diese Worte trugen mehr Wahrheit in sich als diejenigen, die seit dem Gespräch mit André Brockhard auf ihrer Zunge lagen.
    »Ich kann nicht mit dir gehen.«
    Auch das wurde gesagt, aber wann, wo?
    Sie hatte es noch am gleichen Nachmittag ihrer Mutter erzählt – dass sie nicht gehen würde, ihr aber keinen Grund genannt. Die Mutter hatte sie zu trösten versucht, doch Helena hatte den Laut der scharfen, selbstgerechten Stimme nicht ertragen und sich in ihrem Schlafzimmer eingeschlossen. Dann war Urias gekommen, hatte an die Tür geklopft, und sie hatte sich entschlossen, nicht mehr zu denken, sondern sich einfach fallen zu lassen, ohne Angst zu haben und an diesen bodenlosen Abgrund zu denken. Vielleicht hatte er es sofort bemerkt, als sie die Tür öffnete, vielleicht hatten sie dort auf der Türschwelle ein stilles Abkommen getroffen, den Rest ihres Lebens in den Stunden zu leben, die ihnen noch verblieben, ehe der Zug abfuhr.
    »Ich kann nicht mit dir gehen.«
    Der Name André Brockhard hatte wie Galle auf ihrer Zunge gebrannt und sie hatte ihn ausgespuckt. Gemeinsam mit alldem anderen: der Bürgschaft, der Sorge, ihre Mutter könnte auf die Straße gesetzt werden und ihr Vater kein anständiges Zuhause haben, wenn er zurückkam. Auch Beatrice hatte niemanden, zu dem sie gehen konnte. Ja, es wurde alles gesagt, doch wann? Hatte sie es ihm dort in der Kathedrale erzählt? Oder nachdem sie durch die Gassen in die Philharmonikerstraße gelaufen waren, wo die Bürgersteige von Mauerwerk und Glassplittern übersät waren und ihnen die gelben Flammen, die aus den Fenstern des alten Konditorhauses loderten, den Weg wiesen? Sie stürzten in die prunkvolle, doch jetzt menschenleere und dunkle Hotelhalle, entzündeten ein Streichholz, nahmen irgendeinen Schlüssel von der Wand hinter der Rezeption und rannten die Treppe hinauf, auf denen die dicken Teppiche jeden Laut erstickten, so dass sie wie Gespenster aussahen, die auf der Jagd nach Zimmer 342 durch die Korridore huschten. Dann lagen sie einander in den Armen, rissen sich die Kleider vom Leib, als ob auch diese in Flammen stünden, und als sein Atem auf ihrer Haut brannte, kratzte sie ihn bis aufs Blut und legte ihre Lippen auf seine Wunden. Sie wiederholte die Worte, bis sie wie eine Beschwörung klangen: »Ich kann nicht mit dir gehen.«
    Als die Entwarnung signalisierte, dass die Bombardierung für dieses Mal zu Ende war, lagen sie fest umschlungen auf blutigen Laken, und sie weinte und weinte.
    Danach war alles wie ein Mahlstrom aus Körpern, Schlaf und Träumen ineinander verwoben. Wann sie sich liebten und wann sie nur träumte, dass sie sich liebten, wusste sie nicht. Sie war mitten in der Nacht von dem Regen aufgewacht und hatte instinktiv gewusst, dass er fort war. Sie war ans Fenster getreten und hatte auf die Straßen hinuntergestarrt, die von Asche und Erde freigespült wurden. Das Wasser strömte bereits über die Bürgersteige und ein herrenloser Regenschirm segelte über die Straße in Richtung Donau. Dann war sie zurück zum Bett gegangen und hatte sich wieder hingelegt. Doch als sie wieder aufwachte, war es draußen hell gewesen, die Straßen waren trocken und er lag neben ihr und hielt den Atem an Sie sah auf die Uhr auf dem Nachttischchen. Noch zwei Stunden, bis der Zug fuhr. Sie streichelte ihm über die Stirn.
    »Warum atmest du nicht?«, flüsterte sie.
    »Ich bin gerade aufgewacht, du atmest auch nicht.«
    Sie schmiegte sich an ihn. Er war nackt, aber warm und verschwitzt.
    »Dann sind wir wohl tot.«
    »Ja«, sagte er bloß.
    »Du warst weg.«
    »Ja.«
    Sie spürte, dass er zitterte.
    »Aber jetzt bist du zurück«, sagte sie.

 
     
     
     
    TEIL IV
     
    FEGEFEUER

 
    Containerhafen Bj ø rvika, 29. Februar 2000
     
    35 Harry parkte neben einer Baracke an der einzigen abschüssigen Straße, die er auf dem ebenen Kaigelände in Bjørvika finden konnte. Ein plötzlicher Warmlufteinbruch hatte den Schnee schmelzen lassen und die Sonne schien. Es war ganz einfach ein schöner Tag. Er ging zwischen den Containern hindurch, die wie gigantische Legosteinchen übereinander gestapelt in der Sonne warteten und scharfe Schatten auf den Asphalt zeichneten. Die

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