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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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zweistimmiger Ton erklang. Zwei jüngere Frauen lotsten einen reichlich betrunkenen Mann zum Ausgang. Sein Hemd war aus der Hose gerutscht und er hatte ein seliges Lächeln auf den Lippen.
    Binnen zweier Minuten war das Restaurant vollkommen leer undeine seltsame Stille senkte sich über sie. Alles, was sie hörten, war das leise Schluchzen der Frau an der Garderobe. Sie hatte aufgehört, nach ihrem Schirm zu rufen, und ihren Kopf auf den Tresen gestützt. Halb volle Teller und geöffnete Flaschen standen überall auf den weißen Tischtüchern. Urias hielt noch immer Helenas Hand. Ein neuerliches Dröhnen ließ die Kristalllüster erzittern. Die Frau an der Garderobe schrak hoch und stürzte schreiend nach draußen.
    »Endlich allein«, sagte Urias.
    Die Erde unter ihnen zitterte und feiner Staub von vergoldetem Putz glitzerte in der Luft. Urias stand auf und streckte seine Arme aus.
    »Unser bester Tisch ist gerade frei geworden, Fräulein. Wenn es Ihnen recht ist …«
    Sie nahm seinen Arm, stand auf und gemeinsam schritten sie aufs Podium zu. Sie nahm den hohen Pfeiflaut kaum war. Das Donnern der darauf folgenden Explosion war ohrenbetäubend und ließ den Putz wie einen Sandsturm von den Mauern rieseln. Auch die großen Fenster zur Weihburggasse wurden eingedrückt. Das Licht erlosch.
    Urias entzündete die Kerzen des Kandelabers, der auf dem Tisch stand, schob ihr den Stuhl zurecht, hob die zusammengefaltete Serviette zwischen Daumen und Zeigefinger an und entfaltete sie mit einem Schwung in der Luft, ehe er sie auf ihren Schoß gleiten ließ.
    »Hähnchen und Prädikatswein?«, fragte er, während er diskret die Glassplitter von Tisch, Unterteller und ihren Haaren wischte.
    Vielleicht waren es das Licht und der vergoldete Staub, der in der Luft glitzerte, während es draußen dunkel wurde, vielleicht war es der kühle Luftzug, der durch die geöffneten Fenster hereindrang und dem heißen, pannonischen Sommer eine Atempause bescherte. Vielleicht war aber auch nur ihr eigenes Herz, das Blut, das mit voller Wucht durch ihre Adern pulsierte, der Grund, dass sie diese Stunde intensiver als je irgendetwas zuvor erleben konnte. Denn sie erinnerte sich an Musik, und das war ja nicht möglich, wo doch das Orchester zusammengepackt hatte und geflüchtet war. War diese Musik nur ein Traum? Erst viele Jahre später, kurz bevor sie eine Tochter zur Welt bringen sollte, kam sie durch Zufall darauf, was es war, das sie an Musik hatte denken lassen. Der Vater ihrer Tochter hatte über die neue Wiege ein Mobile aus farbigen Glaskugeln gehängt. Eines Abends war er mit der Hand durch das Mobile gefahren, sie hatte die Musik sofort erkannt. Und begriffen, was es gewesen war. Es warendie Kristalllüster im »Drei Husaren«, die für sie gespielt hatten – ein feines, helles Glockenspiel –, als sie mit den Bewegungen der Erde schaukelten. Und Urias marschierte dazu immer wieder in die Küche, trug Salzburger Nockerin auf und drei Flaschen Heurigen aus dem Weinkeller, wo er auch einen der Köche mit einer Flasche im Schoß entdeckt hatte. Der Koch hatte nicht einmal versucht, Urias daran zu hindern, sich zu bedienen, sondern hatte ganz im Gegenteil anerkennend genickt, als Urias ihm die Flasche zeigte, die er ausgewählt hatte.
    Dann schob er die vierzig Schilling, die er bei sich hatte, unter den Kandelaber und sie gingen in den milden Juniabend hinaus. In der Weihburggasse war es vollkommen still, doch die Luft war voller Rauch, Staub und Erde.
    »Lass uns einen Spaziergang machen«, schlug Urias vor.
    Ohne dass einer von ihnen ein Wort gesagt hatte, wohin sie gehen sollten, wandten sie sich nach rechts zur Kärntner Straße und standen plötzlich auf dem dunklen, menschenleeren Stephansplatz.
    »Mein Gott«, sagte Urias. Die riesige Kathedrale vor ihnen erfüllte die noch junge Nacht.
    »Ist das der Stephansdom?«, fragte er.
    »Ja.« Helena legte den Kopf in den Nacken und ließ ihren Blick am Südturm emporgleiten. Die schwarzgrüne Spitze des Kirchendaches ragte in den Himmel, an dem die ersten Sterne zum Vorschein gekommen waren.
    Das Nächste, an das sich Helena erinnerte, war, dass sie plötzlich in der Kirche standen. Sie sah die weißen Gesichter der Menschen vor sich, die dort Zuflucht gesucht hatten, und hörte das Weinen von Kindern und die Orgelmusik. Arm in Arm gingen sie zum Altar hinauf – oder hatte sie auch das nur geträumt? Stimmte es nicht, dass er sie plötzlich an sich gedrückt und gesagt hatte, sie

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