Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
Vom Netzwerk:
verschwinden.
     
    Wien, 28. Juni 1944
     
    34 »Guten Abend, meine Herrschaften.«
    Der kleine, magere Oberkellner verbeugte sich tief, und Helena kniff Urias in den Arm, weil dieser sein Lachen nicht zurückhalten konnte. Sie hatten den ganzen Weg vom Hospital lachen müssen, weil sie so ein Aufsehen erregten. Als sich nämlich gezeigt hatte, welch elender Chauffeur Urias war, hatte Helena verlangt, dass er jedes Mal am Straßenrand anhielt, wenn ihnen auf der schmalen Fahrbahn ein Wagen entgegenkam. Doch stattdessen hatte Urias pausenlos gehupt, was dazu führte, dass die entgegenkommenden Fahrzeuge an die Seite fuhren oder ganz einfach stehen blieben. Glücklicherweise waren nicht mehr viele Autos in Wien unterwegs, weshalb sie noch vor halb acht mit heiler Haut in der Weihburggasse im Zentrum ankamen.
    Der Oberkellner warf einen raschen Blick auf Urias Uniform, eheer mit einer besorgten Falte auf der Stirn seine Reservierungsliste durchging. Helena blickte über seine Schulter hinweg. Kristalllüster hingen von der geschwungenen gelben Decke herab, die von weißen korinthischen Säulen getragen wurde, und das Summen und Lachen der Stimmen wurde kaum von der Musik des Orchesters übertönt.
    Das ist also das Restaurant »Zu den drei Husaren«, dachte sie erwartungsvoll. Die drei Stufen draußen schienen sie von einer kriegsgezeichneten Stadt auf magische Weise in eine Welt geführt zu haben, in der Bomben und derartige Schrecknisse nur zweitrangig waren. Richard Strauss und Arnold Schönberg waren hier sicher Stammgäste gewesen, denn dies war der Ort, an dem sich die reichen, kultivierten und freisinnigen Bürger Wiens trafen. So freisinnig, dass es ihrem Vater nie in den Sinn gekommen war, seine Familie mit hierher zu nehmen.
    Der Oberkellner räusperte sich. Helena erkannte, dass ihm Urias’ Vizekorporalswürden nicht imponiert hatten. Vielleicht stolperte er aber auch über den seltsamen ausländischen Namen auf der Liste.
    »Ihr Tisch ist bereit, folgen Sie mir bitte«, sagte er, nahm zwei Speisekarten mit, lächelte ihnen kurz zu und ging ihnen voran. Das Restaurant war brechend voll.
    »Bitte sehr.«
    Urias sah Helena mit leicht resigniertem Blick an. Sie hatten einen ungedeckten Tisch neben der Schwingtür zur Küche bekommen.
    »Ihr Kellner wird gleich hier sein«, sagte der Oberkellner und verschwand. Helena sah sich um und begann zu lachen.
    »Schau mal«, sagte sie. »Da ist unser ursprünglicher Tisch.«
    Urias drehte sich um. Und ganz richtig, oben vor dem Orchesterpodium war ein Kellner bereits damit beschäftigt, einen freien, für zwei Personen gedeckten Tisch abzuräumen.
    »Tut mir Leid«, sagte er. »Ich glaube, ich habe das Wort ›Major‹ vor meinen Namen gesetzt, als ich hier angerufen habe. Ich habe darauf vertraut, dass deine Schönheit meinen mangelnden Offiziersgrad überstrahlen würde.«
    Er nahm ihre Hand und genau in diesem Moment begann das Orchester einen lustigen Csárdás zu spielen.
    »Den spielen sie sicher für uns«, sagte er.
    »Vielleicht.« Sie schlug die Augen nieder. »Wenn nicht, ist das aber auch nicht wichtig. Das, was du da hörst, ist Zigeunermusik. DieseMusik ist schön, wenn sie von Zigeunern gespielt wird. Siehst du hier irgendwelche Zigeuner?«
    Er schüttelte den Kopf, ohne seinen Blick abzuwenden. Er betrachtete aufmerksam ihr Gesicht, als sei es wichtig, jeden einzelnen Ausdruck, jede Hautfalte und jedes Haar in sich aufzunehmen.
    »Sie sind alle weg«, sagte sie. »Die Juden auch. Glaubst du, dass an den Gerüchten etwas dran ist?«
    »Welche Gerüchte?«
    »über die Konzentrationslager.«
    Er zuckte mit den Schultern.
    »Im Krieg gibt es immer irgendwelche Gerüchte. Was mich angeht, so würde ich mich in Hitlers Gefangenschaft wohl ziemlich sicher fühlen.«
    Das Orchester begann ein dreistimmiges Lied zu spielen und einige der Zuhörer sangen mit.
    »Was ist das?«, fragte Urias.
    »Ein Verbunkos«, erwiderte Helena. »Eine Art Soldatenlied, genau wie das norwegische Lied, das du im Zug gesungen hast. Mit den Liedern sollten junge ungarische Männer für den Rákóczi-Krieg angeworben werden. Worüber lachst du?«
    »Über all die merkwürdigen Sachen, die du weißt. Verstehst du auch, was die singen?«
    »Ein bisschen. Hör auf zu lachen.« Sie kicherte. »Beatrice ist Ungarin und sie hat mir immer vorgesungen; da habe ich ein paar Worte aufgeschnappt. Es geht darin um vergessene Helden und Ideale und so etwas.«
    »Vergessen.« Er drückte ihre

Weitere Kostenlose Bücher