Rotkehlchen
an, dass er blaue Augen hat, Norweger ist und über siebzig Jahre alt. Und er spricht deutsch.« »Und?«
»Das ist alles.«
Juul lachte. »Ja, da habt ihr aber reichlich Auswahl.«
»Nun, es gibt hundertachtundfünfzigtausend Männer in diesem Land, die über siebzig sind, und ich schätze, etwa hunderttausend davon haben blaue Augen und sprechen deutsch.«
Juul zog seine Augenbrauen hoch. Harry lächelte dumm.
»Statistisches Jahrbuch. Ich hab zum Spaß mal nachgeschaut.«
»Und warum glauben Sie dann, dass ich Ihnen helfen kann?«
»Darauf komme ich noch. Dieser Mann soll einem anderen gegenüber geäußert haben, dass er seit mehr als fünfzig Jahren kein Gewehr mehr in den Händen gehalten hat. Ich dachte, das heißt, meine Kollegin dachte, dass mehr als fünfzig gleichzeitig weniger als sechzig heißt.«
»Logisch.«
»Ja, sie denkt sehr … logisch. Lassen Sie uns einmal davon ausgehen, dass es sich um fünfundfünfzig Jahre handelt. Da landen wir mitten im Zweiten Weltkrieg. Er ist um die zwanzig und hält also ein Gewehr in den Händen. Alle Norweger, die ein Gewehr besaßen, mussten dieses an die Deutschen abliefern. Wo war er folglich?«
Harry streckte drei Finger in die Höhe.
»Entweder war er im Widerstand oder er ist nach England geflohen oder er war im Dienst der Deutschen irgendwo an der Front. Er spricht besser deutsch als englisch. Das bedeutet …«
»Ihre Kollegin meint also, er müsse ein Frontkämpfer gewesen sein?«, fragte Juul.
»Genau zu dem Schluss ist sie gekommen.«
Juul zog an seiner Pfeife.
»Auch viele der Widerstandskämpfer mussten deutsch lernen«, wand er ein. »Um sich einzuschleichen, zu spionieren und so weiter. Und Sie vergessen die Norweger bei der schwedischen Polizei.«
»Die Schlussfolgerung ist demnach zu gewagt?«
»Tja, lassen Sie mich mal laut denken«, sagte Juul. »Rund fünfzehntausend Norweger haben sich freiwillig als Frontkämpfer gemeldet, siebentausend davon wurden eingezogen und bekamen somit eine Waffe. Das sind viel mehr als die, die nach England gegangen sind und sich dort zum Dienst gemeldet haben. Und auch wenn sich zum Schluss des Krieges viele Norweger für den Widerstand engagiert haben, so haben doch nur wenige eine Waffe in den Händen gehalten.«
Juul lächelte.
»Gehen wir vorläufig noch davon aus, dass Sie Recht haben. Diese Frontkämpfer stehen heute natürlich nicht als frühere Waffen-SS-Leute im Telefonbuch, aber ich denke, Sie haben herausgefunden, wo Sie suchen müssen?«
Harry nickte.
»Im Archiv der Landesverräter. Nach Namen archiviert, mit all den Daten von den Rechtsverfahren damals. Ich bin das die letzten Tage durchgegangen. Ich dachte, dass einige vielleicht gestorben wären, so dass wir zu einer brauchbaren Anzahl kämen. Aber falsch.«
»Ja, das sind zähe Teufel«, lachte Juul.
»Und jetzt komme ich darauf, warum wir Sie angerufen haben. Sie kennen den Hintergrund der Frontkämpfer besser als alle anderen. Ich möchte, dass Sie mir helfen zu verstehen, wie so ein Mann denkt, was ihn antreibt.«
»Danke für das Vertrauen, Hole, aber ich bin Historiker und weiß nicht mehr über die Beweggründe der einzelnen Menschen als jeder andere. Wie Sie vielleicht wissen, war ich im Widerstand, in der Milorg, und das qualifiziert mich nicht gerade, mich in die Gedanken eines Frontkämpfers zu versetzen.«
»Ich glaube, dass Sie trotzdem einiges wissen, Juul.«
»Wirklich?«
»Ich glaube, Sie wissen, was ich meine. Ich habe mich recht intensiv über Sie erkundigt.«
Juul zog an seiner Pfeife und sah Harry an. In der Stille, die folgte, bemerkte Harry jemanden in der Tür. Er drehte sich um und erblickte eine ältere Frau. Sie hatte milde, ruhige Augen, die Harry ansahen.
»Wir unterhalten uns gerade, Signe«, sagte Even Juul.
Sie nickte Harry munter zu, öffnete ihren Mund, als wollte sie etwas sagen, hielt aber inne, als sie den Blick ihres Mannes wahrnahm. Dann nickte sie wieder, schloss leise die Tür und war verschwunden.
»Sie wissen es also?«, fragte Juul.
»Ja, sie war Krankenschwester an der Ostfront, nicht wahr?«
»Bei Leningrad. Von 1942 bis zum Rückzug im März 1943.« Er legte seine Pfeife beiseite. »Warum sind Sie auf der Suche nach diesem Mann?«
»Um ehrlich zu sein, das wissen wir noch nicht ganz genau. Aber es kann sich um ein Attentat handeln.«
»Hm.«
»Wonach sollen wir also suchen? Nach einem Sonderling? Einem Mann, der noch immer überzeugter Nazi ist? Einem Kriminellen?« Juul
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