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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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eine Art Geschichte, wenn sie durch die Karten blätterte. Dann hatte er versucht, ihre Kombinationsgabe auch für die Arbeit zu nutzen. Manchmal mit verblüffenden Resultaten.
    »Ein Mann, siebzig Jahre alt«, sagte Harry langsam. »Norweger. Eine halbe Million Kronen. Verbittert. Blaue Augen. Eine Märklin-Waffe. Spricht deutsch. Keine Gebrechen. Waffenschmuggel am Containerhafen. Schießtraining unweit von Skien. Das war’s.«
    Er setzte sich ins Auto.
    »Nichts? Dachte ich mir. Okay. Einen Versuch war’s aber wert. Danke trotzdem. Mach’s gut.«
    Harry steckte im dichten Verkehr vor dem Postgirohochhaus, als ihm plötzlich etwas in den Sinn kam und er noch einmal anrief.
    »Ellen? Ich bin’s noch mal. Du, ich habe eine Sache vergessen. Bist du bereit? Hat mehr als fünfzig Jahre keine Waffe mehr in den Händen gehalten. Ich wiederhole: Hat mehr als fünfzig… ja, ich weiß, dass das mehr als vier Worte sind. Noch immer nichts? Scheiße, jetzt hab ich die Ausfahrt verpasst! Bis bald, mach’s gut.«
    Er legte das Handy auf den Beifahrersitz und konzentrierte sich auf das Fahren. Er war gerade wieder aus dem Kreisverkehr heraus, als das Telefon klingelte.
    »Harry. Was? Wie in aller Welt bist du denn darauf gekommen? Ja doch, ja doch, nein, werd jetzt nicht wütend, Ellen, ich vergess einfach manchmal, dass du auch nicht immer weißt, was in deiner Birne so vor sich geht. Gehirn. In deinem großen, wunderbaren Hirn, Ellen. Und ja, jetzt, wo du es sagst, ist es einleuchtend. Ich danke dir.«
    Er legte auf und erinnerte sich im gleichen Moment daran, dass er ihr diese drei Nachtdienste noch immer schuldete. Jetzt, da er nicht mehr im Dezernat für Gewaltverbrechen arbeitete, musste er sich etwas anderes einfallen lassen. Vielleicht drei Sekunden lang dachte er darüber nach, was dieses »andere« sein konnte.
     
    Irisveien, 1. März 2000
     
    36 Die Tür ging auf und Harry blickte in ein Paar scharfe blaue Augen in einem faltigen Gesicht. »Harry Hole, Polizei«, sagte er. »Ich habe heute Morgen angerufen.«
    »Jawohl.«
    Die grauweißen Haare des Mannes waren über der hohen Stirn glatt nach hinten gekämmt und er trug einen Schlips unter der Strickjacke. Even und Signe Juul stand auf dem Briefkasten am Tor des roten Zweifamilienhauses, das in einer ruhigen Villengegend im Norden des Zentrums lag.
    »Bitte, kommen Sie herein, Herr Hole.«
    Die Stimme war ruhig und sicher und irgendetwas an der Körperhaltung von Professor Juul ließ ihn jünger aussehen, als er sein konnte. Harry hatte Nachforschungen angestellt und war dabei auf den Hinweis gestoßen, dass der Geschichtsprofessor an der Heimatfront gekämpft hatte. Und obgleich Even Juul pensioniert war, galt er noch immer als die Koryphäe in Sachen norwegischer Besatzungsgeschichte und Nationaler Sammlung.
    Harry beugte sich hinunter, um seine Schuhe auszuziehen. An der Wand vor ihm hingen alte, leicht verblichene Schwarzweißbilder in kleinen Rahmen. Eins von ihnen zeigte eine junge Frau in Krankenschwesteruniform. Ein anderes einen jungen Mann in einem weißen Frack.
    Sie traten in ein Wohnzimmer, wo ein ergrauter Airedaleterrier zu bellen aufhörte und Harry stattdessen pflichtbewusst beschnupperte, ehe er sich wieder neben Juuls Lehnsessel legte.
    »Ich habe einige Ihrer Artikel über Faschismus und Nationalsozialismus im Dagbladet gelesen«, begann Harry, als sie sich gesetzt hatten.
    »Ist das wahr, euch gibt es also?«, erwiderte Juul lächelnd.
    »Es scheint Ihnen ein Anliegen zu sein, vor dem heutigen neuen Nationalismus zu warnen.«
    »Nicht zu warnen, ich will bloß ein paar historische Parallelen andeuten. Eine historische Verantwortung muss man aufdecken, nicht verurteilen.«
    Juul zündete sich eine Pfeife an.
    »Manch einer glaubt, Richtig und Falsch seien feste Größen. Das stimmt nicht, sie ändern sich mit der Zeit. Die Aufgabe der Historiker ist es zuallererst einmal, die historische Wahrheit zu finden, die Aussage der Quelle, und diese zu präsentieren, objektiv und leidenschaftslos. Wenn die Historiker über die Mängel der Menschen richten würden, würde unsere Arbeit für die Nachwelt wie tote Fossilien aussehen – Abdrücke der seinerzeit Rechtschaffenen.«
    Eine blaue Rauchsäule stieg nach oben. »Aber deshalb sind Sie wohl nicht gekommen?«
    »Wir fragen uns, ob Sie uns eventuell helfen könnten, einen Mann zu finden.«
    »Sie haben das bereits am Telefon gesagt. Wer ist dieser Mann?« »Das wissen wir nicht. Aber wir nehmen

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