Rotkehlchen
ließ sich vom Kellner die Serviette auf den Schoß legen. »Wir bekamen Besuch von einem älteren Mann, der behauptete, wir würden ihm Geld schulden. Das Außenministerium also. Fast zwei MillionenKronen verlangte er und verwies auf ein Schreiben, das er 1970 geschickt hatte.«
Sie verdrehte die Augen. Sie sollte sich ein bisschen weniger schminken, dachte Brandhaug.
»Sagte er, warum wir ihm angeblich Geld schulden?«
»Er sagte, er sei bei der Kriegsmarine gewesen. Es ging um ein Nortraschiff und darum, dass seine Heuer nicht ausbezahlt worden sei.«
»Ach ja, ich glaube, dann weiß ich, worum es geht. Was hat er sonst noch gesagt?«
»Dass er nicht mehr länger warten könne. Dass wir ihn und die anderen Mitglieder der Kriegsmarine betrogen hätten. Und dass Gott uns für unsere Sünden strafen würde. Ich weiß nicht, ob er getrunken hatte oder krank war; er sah auf jeden Fall nicht gut aus. Er hatte einen Brief bei sich, der 1944 vom norwegischen Generalkonsul in Bombay unterzeichnet worden war, der ihm stellvertretend für den norwegischen Staat garantierte, dass ihm die Kriegsrisikozulage für die vier Jahre als Steuermann der norwegischen Handelsflotte nachträglich ausbezahlt werden würde. Hätte es diesen Brief nicht gegeben, hätten wir ihn natürlich gleich vor die Tür gesetzt und Sie nicht mit dieser Bagatelle behelligt.«
»Du kannst zu mir kommen, wann immer du willst, Aud Hilde«, sagte Brandhaug und spürte plötzlich eine panische Unsicherheit: Hieß sie wirklich Aud Hilde?
»Armer Mann«, fuhr er dann fort und signalisierte dem Kellner, dass sie noch mehr Wein wollten. »Das Traurige an dieser Sache ist, dass er natürlich Recht hat. Die Nortraship-Flotte war geschaffen worden, um den Teil der norwegischen Handelsflotte zu verwalten, den die Deutschen nicht bereits eingezogen hatten. Es war eine Organisation mit teils politischen, teils ökonomischen Interessen. Die Briten zum Beispiel bezahlten hohe Beträge als Risikozuschuss an Nortraship, um norwegische Schiffe nutzen zu können. Doch anstatt dass diese an die Mannschaften ausbezahlt wurden, verschwanden die Gelder direkt in den Kassen des Staates und der Reederei. Und hier ist von vielen hundert Millionen Kronen die Rede. Die Matrosen strebten einen Prozess an, um ihr Geld zu bekommen, aber 1954 haben sie vor dem Höchsten Gerichtshof verloren. Erst 1972 bestätigte das Storting, dass ihnen diese Gelder zustünden.«
»Er habe sicher deshalb nichts bekommen, weil er im ChinesischenMeer von den Japanern und nicht von den Deutschen torpediert worden sei, behauptete der Mann «
»Hat er seinen Namen genannt?«
»Konrad Å snes. Warten Sie, ich kann Ihnen den Brief zeigen. Er hat alles ausgerechnet mit Zins und Zinseszins.«
Sie beugte sich über ihre Tasche. Ihre Oberarme zitterten leicht. Sie sollte ein bisschen mehr Sport treiben, dachte Brandhaug. Vier Kilo weniger und Aud Hilde wäre vollschlank statt … mollig.
»Ist schon gut«, wehrte er ab. »Den brauche ich nicht zu sehen. Nortraship betrifft das Handelsministerium.«
Sie sah zu ihm auf.
»Er bestand darauf, dass wir es seien, die ihm die Gelder schuldeten. Er hat uns eine Frist von vierzehn Tagen gegeben.«
Brandhaug lachte.
»Hat er das? Und warum hat er es nach sechzig Jahren plötzlich so eilig?«
»Das hat er nicht gesagt. Er meinte nur, wir müssten die Konsequenzen schon selber tragen, wenn wir nicht bezahlten.«
»Ach du lieber Gott.« Brandhaug wartete, bis der Kellner ihnen beiden eingeschenkt hatte, dann beugte er sich über den Tisch. »Ich hasse diese Konsequenzen, du nicht auch?«
Sie lachte unsicher.
Brandhaug hob sein Glas.
»Ich frage mich nur, wie wir die Sachen handhaben sollen«, sagte sie.
»Vergiss es«, sagte er. »Aber auch ich frage mich etwas, Aud Hilde.« »Was denn?«
»Ob du schon das Zimmer gesehen hast, über das wir hier im Hotel verfügen können?«
Aud Hilde lachte wieder und schüttelte den Kopf.
SATS Fitnesscenter, Ila, 2. März
38 Harry strampelte und schwitzte. Das Studio verfügte über achtzehn hypermoderne Ergometerfahrräder, alle besetzt von urbanen, größtenteils gut aussehendenMenschen, die auf die stummen Fernsehapparate starrten, die von der Decke herabhingen. Harry sah auf Elisa aus Big Brother, die mit tonlosen Lippen sagte, dass sie Poppe nicht ausstehen konnte. Harry wusste das. Es war eine Wiederholung.
»That don’t impress me much!«, hallte es aus den Lautsprechern.
Nun ja, dachte Harry, der
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