Rotkehlchen
haben einem Frontkämpfer vertraut?«
Juul lachte. »Ja, voll und ganz.«
»Warum lachen Sie?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Ich habe viel Zeit.«
»Wir haben ihm den Befehl gegeben, einen aus seiner eigenen Familie zu liquidieren.«
Harry hörte auf zu strampeln. Juul räusperte sich.
»Als wir ihn in der Nordmarka nördlich des Ullev å lseters fanden, glaubten wir seine Geschichte zuerst nicht. Wir hielten ihn für einen Spion und wollten ihn schon erschießen. Doch wir hatten Verbindungen zum Osloer Polizeiarchiv und konnten seine Geschichte überprüfen; und da zeigte es sich, dass er tatsächlich als vermisst galt und verdächtigt wurde, an der Front desertiert zu sein. Sein Familienhintergrund stimmte, und er hatte Papiere, die zeigten, dass er der war, für den er sich ausgab. Doch all das konnte natürlich von den Deutschen so gedreht worden sein, und so entschlossen wir uns, ihn zu testen.«
Pause.
»Und?«, fragte Harry.
»Wir versteckten ihn in einer Hütte, wo er sowohl von uns als auch von den Deutschen isoliert war. Jemand schlug vor, wir sollten ihm den Befehl geben, einen seiner NS-Brüder zu liquidieren. Im Grunde eigentlich, um zu sehen, wie er reagierte. Er sagte nicht ein Wort, als wir ihm den Befehl gaben, doch als wir am nächsten Tag zur Hütte kamen, war er fort. Wir waren sicher, dass er fortgelaufen war, aber zwei Tage später tauchte er wieder auf Er sagte, er hätte mal bei seiner Familie im Gudbrandsdal vorbeigeschaut. Einige Tage später erhielten wir die Nachricht von unseren Leuten dort oben. Den einen Bruder hatte man im Heu gefunden, den anderen im Stall. Die Eltern lagen im Wohnzimmer.«
»Mein Gott«, sagte Harry. »Der Mann muss doch verrückt gewesen sein.«
»Wahrscheinlich. Das waren wir alle. Es war Krieg. Wir haben imÜbrigen nie darüber gesprochen, damals nicht und seither auch nicht. Sie sollten das auch nicht …«
»Natürlich nicht. Wo wohnt er?«
»Hier in Oslo. Holmenkollen, glaube ich.«
»Und er heißt?«
»Fauke. Sindre Fauke.«
»Gut. Ich werde Kontakt mit ihm aufnehmen. Danke, Juul.«
Auf dem Fernsehschirm sandte Poppe in extremem Close-up einen tränenreichen Gruß nach Hause. Harry befestigte das Handy an der Kordel der Trainingshose, zog sie hoch und machte sich auf in Richtung Kraftraum.
…. whatever, that don’t impress me much
House of Singles, Hegdehaugsveien, 2. März 2000
39 »Wollqualität Super 110«, erklärte die Verkäuferin und hielt die Jacke vor dem alten Mann hoch. »Das Beste, leicht und doch extrem haltbar.«
»Sie soll nur einmal benutzt werden«, erwiderte der Alte und lächelte.
»Oh«, sagte sie leicht verwirrt. »Dann haben wir etwas Günstigeres …«
»Die ist schon gut.« Er betrachtete sich im Spiegel.
»Klassischer Schnitt«, versicherte ihm die Verkäuferin. »Das Klassischste, was wir haben.«
Voller Schrecken betrachtete sie den Alten, der sich plötzlich zusammengekrümmt hatte.
»Fehlt Ihnen etwas, soll ich …«
»Nein, nein, das war nur ein Stich. Das geht vorbei.« Der Alte richtete sich auf. »Wie schnell können Sie die Hose umnähen?«
»Bis Mittwoch nächster Woche. Wenn es nicht eilt. Brauchen Sie den Anzug für einen speziellen Anlass?«
»Ja, so ist es. Aber Mittwoch ist in Ordnung.«
Er bezahlte sie mit Hundertern. Beim Zählen sagte sie:
»Das kann ich Ihnen garantieren, da haben Sie einen Anzug, der ein Leben lang hält.«
Sein Lachen schallte noch in ihren Ohren, als er den Laden längst verlassen hatte.
Holmenkoll å sen, 3. März 2000
40 Auf dem Hollmenkollveien in Besserud fand Harry die Hausnummer, die er suchte, an einem großen dunkel gebeizten Holzhaus, das im Schatten gewaltiger Fichten stand. Ein Kiesweg führte zum Haus, und Harry fuhr bis auf den Hofplatz, wo er den Wagen wendete. Er wollte in der abschüssigen Auffahrt parken, doch als er in den ersten Gang schaltete, stotterte der Motor plötzlich und erstarb. Harry fluchte und drehte den Zündschlüssel, doch ohne Erfolg.
Er stieg aus dem Auto und ging zum Haus hoch, als eine Frau aus der Tür trat. Sie hatte ihn offensichtlich nicht gehört und blieb mit einem fragenden Blick auf der Treppe stehen.
»Guten Morgen«, sagte Harry und nickte in Richtung seines Wagens. »Ist nicht mehr ganz frisch, braucht … Medizin.«
»Medizin?« Ihre Stimme klang tief und warm.
»Ja, ich glaube, es hat sich einen dieser Grippeviren eingefangen, die im Umlauf sind.«
Die Frau lächelte. Sie schien um
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