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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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lagen.
    »Es ist rot«, sagte sie ruhig.
    Harry trat abrupt auf die Bremse.
    »Tut mir Leid«, stotterte er.
    Was war denn mit ihm los? Blickte er auf ihre Hände, um zu überprüfen, ob sie einen Ehering trug? Mein Gott!
    Er sah sich um und erkannte plötzlich, wo sie sich befanden. »Stimmt etwas nicht?«, fragte sie.
    »Nein, nein.« Die Ampel sprang auf Grün und er gab Gas. »Ich habe nur schlechte Erinnerungen an diesen Ort.«
    »Ich auch«, sagte sie. »Ich bin vor ein paar Jahren hier mit dem Zug vorbeigefahren, als kurz zuvor ein Polizeiwagen über die Schienen und direkt in die Mauer dort vorne gerast war.« Sie deutete nach vorn. »Es war schrecklich. Einer der Polizisten hing noch immer wie gekreuzigt am Schrankenpfosten. Ich habe danach viele Nächte nicht schlafen können. Man sagte, der Polizist, der am Steuer gesessen hatte, wäre betrunken gewesen.«
    »Wer sagte das?«
    »Jemand, mit dem ich studiert habe. Von der Polizeihochschule.« Sie fuhren durch Fr ø en. Vindern lag hinter ihnen. Weit hinter ihnen, entschied Harry.
    »Dann sind Sie auf die Polizeihochschule gegangen?«, fragte er. »Nein, sind Sie verrückt?« Sie lachte wieder. Harry mochte dieses Lachen. »Ich habe an der Universität Jura studiert.«
    »Ich auch«, sagte er. »Wann waren Sie dort?«
    Schneidig, schneidig, Hole.
    »Zweiundneunzig war ich fertig.«
    Harry rechnete, addierte und subtrahierte Jahre. Mindestens dreißig also.
    »Und Sie?«
    »Neunzig«, antwortete Harry.
    »Dann erinnern Sie sich vielleicht an das Konzert von den Raga Rockers beim Jura-Festival achtundachtzig?«
    »Na klar, ich war da. Im Garten.«
    »Ich auch! War das nicht fantastisch?« Sie sah ihn an. Ihre Augen glänzten.
    Wo? Fragte er sich. Wo warst du?
    »Ja, es war toll.« Harry erinnerte sich kaum noch an das Konzert. Allerdings erinnerte er sich plötzlich auch an all die aufgedonnerten Mädels, die immer auftauchten, wenn Raga spielte.
    »Aber wenn wir zur selben Zeit studiert haben, haben wir sicher viele gemeinsame Bekannte«, sagte sie.
    »Das bezweifle ich. Ich war damals Polizist und hab nicht so zum Studentenmilieu gehört.«
    Schweigend überquerten sie die Industrigate.
    »Sie können mich hier absetzen«, sagte sie.
    »Wollen Sie hier hin?«
    »Ja.«
    Er hielt am Bürgersteig an und sie wandte sich ihm zu. Eine verirrte Haarsträhne hing ihr ins Gesicht. Ihr Blick war weich und gleichzeitig so angstlos. Braune Augen. Plötzlich und vollkommen unerwartet packte ihn ein wilder Gedanke: Er wollte sie küssen.
    »Danke«, sagte sie und lächelte.
    Sie betätigte den Türhebel. Nichts geschah.
    »Entschuldigung«, sagte Harry, beugte sich über sie und sog ihren Duft ein. »Das Schloss …« Er gab der Tür einen kräftigen Stoß, sie öffnete sich. Er fühlte sich, als hätte er getrunken.
    »Vielleicht sehen wir uns ja noch mal«, sagte sie.
    »Ja, vielleicht.«
    Er hatte Lust, sie zu fragen, wohin sie musste, wo sie arbeitete, ob ihr der Job gefiel, was sie sonst noch mochte, ob sie einen Lebensgefährten hatte, ob sie sich vorstellen könne, mit ihm auf ein Konzert zu gehen, auch wenn es nicht Raga wäre. Doch glücklicherweise war es zu spät, sie tänzelte bereits mit graziösen Schritten über den Bürgersteig in der Sporveisgate.
    Harry seufzte. Er hatte sie vor dreißig Minuten getroffen und wusste nicht einmal, wie sie hieß. Vielleicht begann die Midlifecrisis bei ihm einfach ein bisschen früher als gewöhnlich.
    Dann sah er in den Rückspiegel und machte eine alles andere als korrekte Kehrtwende. Die Vibesgate war ganz in der Nähe.
     
    Vibesgate, Majorstua, 3. März 2000
     
    41 Ein Mann stand in der Tür und lächelte breit, als Harry schnaufend in der vierten Etage ankam. »Viele Treppen, ich weiß«, sagte der Mann und reichte ihm die Hand. »Sindre Fauke.«
    Die Augen waren noch immer jung, während sein Gesicht ansonsten so aussah, als hätte es zwei Weltkriege durchgemacht. Mindestens. Die spärlichen weißen Haare waren glatt nach hinten gekämmt und er trug ein rotes Holzfällerhemd unter der offenen Strickjacke. Sein Händedruck war fest und warm.
    »Ich habe gerade Kaffee gekocht«, sagte er. »Und ich weiß, was Sie wollen.«
    Sie gingen in die Stube, die wie ein Arbeitszimmer eingerichtet war. Auf einem Schränkchen stand ein Computer, überall lagen Papiere. Auf den Tischen und am Rande des Fußbodens stapelten sich Zeitschriften und Bücher.
    »Ich habe hier noch keine richtige Ordnung«, erklärte er und räumte

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