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Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
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schüttelte den Kopf.
    »Die starben?«, ergänzte Harry.
    »Wir konnten uns nicht mal deren Namen merken. Was sollte das Ganze? Das war schwer zu begreifen, aber noch 1944 kamen Freiwillige direkt an die Ostfront. Da wussten wir schon längst, wie es ausgehen würde. Die armen Teufel dachten wohl, sie könnten Norwegen retten.«
    »Wenn ich richtig informiert bin, waren Sie 1944 aber nicht mehr da?«
    »Das stimmt, ich bin desertiert. Silvester 1943. Ich habe zweifachen Verrat begangen.« Fauke lächelte. »Und bin zweimal im falschen Lager gelandet.«
    »Sie haben für die Russen gekämpft?«
    »Ein bisschen. Ich war Kriegsgefangener. Wir waren am Verhungern. Eines Morgens fragte uns jemand auf Deutsch, ob sich einer von uns mit dem Funk auskannte. Ich wusste ein wenig Bescheid und hob meine Hand. Es stellte sich heraus, dass in einem Regiment die ganze Funkabteilung tot war. Alle. Am nächsten Tag habe ich das Funktelefon bedient, während wir in Estland die Stellungen meiner früheren Kameraden stürmten. Das war bei Narva …«
    Fauke hob seine Tasse an und legte beide Hände um sie.
    »Ich lag auf einer Anhöhe und sah zu, wie die Russen eine deutsche Maschinengewehrstellung stürmten. Die Deutschen mähten sie einfach nieder. Hundertundzwanzig Mann und vier Pferde türmten sich vor ihnen, bis das Maschinengewehr schließlich heißlief. Die Russen töteten sie mit den Bajonetten, um Munition zu sparen. Von Anfang bis Ende dieses Sturmlaufs verging maximal eine halbe Stunde. Hundertundzwanzig Tote. Und dann kam die nächste Stellung dran. Und da lief es ganz genauso.«
    Harry konnte sehen, dass die Tasse leicht zitterte.
    »Ich begriff, dass ich sterben würde. Und das für eine Sache, an die ich nicht glaubte. Ich glaubte weder an Stalin noch an Hitler.«
    »Warum gingen Sie an die Ostfront, wenn Sie nicht an die Sache glaubten?«
    »Ich war damals achtzehn Jahre alt. Ich war auf einem Hof weit oben im Gudbrandsdal aufgewachsen, wo wir außer den nächsten Nachbarn eigentlich nie jemanden sahen. Wir lasen keine Zeitung, hatten keine Bücher – ich wusste nichts. Was ich über Politik wusste, hatte ich von meinem Vater. Wir waren die Einzigen unserer Familie, die noch in Norwegen waren; alle anderen waren in den zwanziger Jahren nach Amerika ausgewandert. Meine Eltern und auch beide Nachbarhöfe waren überzeugte Quisling-Anhänger und NS-Mitglieder. Ich hatte zwei ältere Brüder, zu denen ich in jeglicher Hinsicht aufblickte. Sie waren Mitglieder der norwegischen Kampftruppe, und es war ihre Aufgabe, die Jugend hier im Land für die Partei zu rekrutieren. Sonst hätten auch sie sich für den Frontdienst gemeldet. Das hatten sie mir jedenfalls gesagt. Erst später habe ich erfahren, dass sie Spitzel anwarben. Doch da war es zu spät, da war ich bereits an der Front.«
    »Sie wurden also an der Front bekehrt?«
    »Ich würde das nicht bekehren nennen. Die meisten von uns Freiwilligen dachten doch zuallererst an Norwegen und weniger an die Politik. Für mich kam der Wendepunkt, als ich erkannte, dass ich für den Krieg eines anderen Landes kämpfte. So einfach war das eigentlich. Und so gesehen war es auch nicht besser, für die Russen zu kämpfen. Im Juni 1944 hatte ich Dienst im Hafen von Tallinn, wo es mir gelang, mich an Bord eines schwedischen Rot-Kreuz-Schiffes zu schmuggeln. Ich vergrub mich im Kohlenkeller und blieb dort drei Tage. Ich holte mir eine Kohlenmonoxydvergiftung, aber ich kamnach Stockholm. Von dort gelangte ich zur norwegischen Grenze, die ich ohne fremde Hilfe überquerte. Da war es August.«
    »Warum ohne fremde Hilfe?«
    »Die wenigen, die ich in Schweden kannte, vertrauten mir nicht, meine Geschichte klang wohl zu fantastisch. Aber das war in Ordnung, auch ich habe keinem mehr vertraut.«
    Er lachte wieder laut.
    »Ich versteckte mich also und überlebte irgendwie. Die eigentliche Grenzüberquerung war ein Kinderspiel. Sie können mir glauben, es war gefährlicher, in Leningrad unsere Essensrationen zu holen, als während des Krieges von Schweden nach Norwegen zu kommen. Noch einen Kaffee?«
    »Danke. Warum blieben Sie nicht einfach in Schweden?« »Eine gute Frage. Die ich mir selber oft gestellt habe.«
    Er fuhr sich mit einer Hand über das dünne weiße Haar.
    »Ich war von dem Wunsch nach Rache besessen, verstehen Sie. Ich war jung, und wenn man jung ist, hat man oft diese Zwangsvorstellung von Gerechtigkeit, dass es das ist, wozu wir Menschen berufen sind. Ich war ein junger Mann

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