Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Rotkehlchen

Rotkehlchen

Titel: Rotkehlchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jo Nesbø
Vom Netzwerk:
mit großen inneren Konflikten, als ich an der Ostfront war, und vielen meiner Frontkameraden gegenüber habe ich mich wie ein Drecksack verhalten. Trotzdem, oder vielleicht gerade deshalb, wollte ich all die rächen, die ihr Leben für die Lügen hingaben, mit denen sie uns zu Hause gefüttert hatten. Und Rache für mein eigenes zerstörtes Leben, das ich für verloren hielt. Was ich mir wünschte, war, mit denen abzurechnen, die unser Land wirklich betrogen hatten. Heute würden die Psychologen das wohl Kriegspsychose nennen und mich auf der Stelle einliefern. Stattdessen ging ich nach Oslo, obgleich ich keinen Ort hatte, wo ich hinkonnte; und die einzigen Papiere, die ich besaß, hätten mich sofort vor ein Standgericht gebracht, wo man mich als Deserteur erschossen hätte. Nachdem ich mit einem Lastwagen nach Oslo gekommen war, ging ich hinauf in die Nordmarka. Ich schlief unter den Fichten und ernährte mich drei Tage lang nur von Beeren, bis sie mich fanden.«
    »Die Heimatfront.«
    »Wenn ich Even Juul richtig verstanden habe, hat er Ihnen den Rest erzählt.«
    »Ja.« Harry fingerte an seiner Tasse herum. Die Liquidierung. Daswar einfach unvorstellbar und war auch jetzt, da er dem Mann gegenüber saß, nicht zu verstehen. Es hatte die ganze Zeit dort herumgespukt, ganz vorne in seinem Hirn, seit Harry Fauke lächelnd in der Tür hatte stehen sehen und sie sich die Hände geschüttelt hatten. Dieser Mann hat zwei Brüder und seine Eltern hingerichtet.
    »Ich weiß, was Sie denken«, sagte Fauke. »Ich war ein Soldat, der den Befehl erhalten hatte zu liquidieren. Wenn ich den Befehl nicht erhalten hätte, hätte ich es nicht getan. Aber eines weiß ich: Sie gehörten zu denen, die uns verraten haben.«
    Fauke sah Harry direkt an. Die Tasse zitterte nicht mehr.
    »Sie fragen sich wohl, warum ich alle getötet habe, obgleich ich nur den Befehl hatte, einen zu liquidieren«, fuhr er fort. »Das Problem war, dass sie nicht gesagt hatten, wen ich töten sollte. Sie überließen es mir, Richter über Leben und Tod zu sein. Und das habe ich nicht verkraftet. So habe ich sie alle getötet. An der Front hatte es einen Kerl gegeben, den wir Rotkehlchen nannten. Genau wie der Vogel. Er hatte mir beigebracht, dass es die humanste Art war, mit dem Bajonett zu töten. Die Halsschlagader führt vom Herzen direkt ins Gehirn, und wenn man diese Verbindung durchtrennt, entweicht der Sauerstoff aus dem Gehirn, und das Opfer stirbt sofort den Hirntod. Das Herz pumpt noch drei oder vier Mal und dann bleibt es stehen. Das Problem ist, dass das nicht so leicht ist. Gudbrand, den wir Rotkehlchen nannten, war ein Meister darin, doch ich kämpfte zwanzig Minuten mit meiner Mutter und fügte ihr doch nur Fleischwunden zu. Zu guter Letzt musste ich sie erschießen.«
    Harry hatte einen trockenen Mund. »Ich verstehe«, sagte er heiser.
    Die sinnlosen Worte blieben in der Luft hängen. Harry schob die Kaffeetasse in die Mitte des Tisches und zog einen Notizblock aus seiner Lederjacke.
    »Vielleicht sollten wir über die reden, mit denen Sie in Sennheim waren?«
    Sindre Fauke erhob sich abrupt.
    »Tut mir Leid, Herr Hole. Ich wollte das nicht so kalt und grausam darstellen. Lassen Sie mich eines klar machen, ehe wir weitersprechen: Ich bin kein grausamer Mann, das ist nur meine Art, mich damit auseinander zu setzen. Ich hätte Ihnen das nicht zu erzählen brauchen, aber ich habe es trotzdem getan. Weil ich es nicht außerAcht lassen kann. Deshalb schreibe ich auch dieses Buch. Ich muss das jedes Mal, wenn dieses Thema zur Sprache kommt oder auch nur angeschnitten wird, aufs Neue durchleben. Um ganz sicher zu sein, dass ich nicht davor weglaufe. An dem Tag, an dem ich die Flucht ergreife, hätte die Angst ihren ersten Sieg errungen. Ich weiß nicht, warum das so ist. Ein Psychologe könnte das sicher erklären.«
    Er seufzte.
    »Aber jetzt habe ich gesagt, was es darüber zu sagen gibt. Sicher schon viel zu viel. Noch einen Kaffee?«
    »Nein danke«, lehnte Harry ab.
    Fauke setzte sich wieder. Er stützte sein Kinn auf die geballten Fäuste.
    »Also, Sennheim. Der harte norwegische Kern. Wenn ich mich selbst mitzähle, dreht es sich eigentlich bloß um fünf Leute. Und einer von ihnen, Daniel Gudeson, starb ja in der gleichen Nacht, in der ich verschwand. Vier also. Edvard Mosken, Hallgrim Dale, Gudbrand Johansen und ich. Der Einzige, den ich nach dem Krieg einmal gesehen habe, ist Edvard Mosken, unser Anführer. Das war im Sommer 1945. Er

Weitere Kostenlose Bücher