Rott sieht Rot
Fahrrad ab. Ich hatte keine Chance zum Parken und fuhr einfach weiter. Im Rückspiegel sah ich, dass sie in einem Eingang verschwand.
Ich fuhr rechts ran und konsultierte den Stadtplan. Ich befand mich in unmittelbarer Nähe eines Friedhofs. Ich umrundete das ganze Areal und konnte auf der Rückseite den Wagen parken. Neben dem Gehsteig verlief die Mauer, die ich gesehen hatte; sie war mindestens fünf Meter hoch. Ich hastete die Straße entlang. Die Strecke war weiter, als ich gedacht hatte. Endlich kam ich wieder an die Stelle, wo es so steil hinaufgegangen war.
Dann erreichte ich den Eingang zum Friedhof. Er war wie ein altertümliches Torhaus gestaltet und mit einer Inschrift geschmückt: »Selig sind die Todten, die in dem Herrn sterben.« Sehr alte Rechtschreibung. Daneben lehnte das Fahrrad.
Durch das Tor öffnete sich der Blick auf einen langen Weg. Im Hintergrund erkannte ich eine Säule; wahrscheinlich ein Denkmal.
Der Weg war wie mit dem Lineal gezogen. Seitlich reihten sich die Gräber; dazwischen verliefen noch einmal kleine Pfade. Das Mädchen war nicht zu sehen.
Ich ging gemächlich weiter und suchte alle Ecken ab, die ich von hier aus einsehen konnte. Hohe Bäume verdeckten die Sicht; dazwischen zeigten sich ab und zu ferne, bewaldete Hügel im Sonnenschein. Der Friedhof war wie eine Oase. Man glaubte kaum, mitten in einer Stadt zu sein.
Weiter hinten auf der rechten Seite waren keine Gräber mehr. Stattdessen öffnete sich eine kleine Rasenfläche. An ihrem Ende stand ein riesiger steinerner Engel, der eine gewaltige Trompete in der Hand hielt und jeden Moment das jüngste Gericht anzukündigen schien. Davor hatte man zwei Bänke aufgestellt. Auf einer der beiden saß das rothaarige Mädchen und sah mich an. Braune Augen zu den roten Haaren. Ich blieb stehen. Sie war verdammt hübsch.
Sie runzelte die Stirn und schien nach Worten zu suchen. Dann sagte sie, wobei sie sich Mühe gab, selbstsicher zu wirken: »Warum verfolgen Sie mich?«
Ihr Blick, der eben noch eher neugierig wirkte, wurde ängstlich. Ich hatte mit meiner Schätzung richtig gelegen. Sie war vielleicht zwanzig, höchstens fünfundzwanzig Jahre alt.
Ich betrat die Grasfläche. Das Mädchen zuckte leicht zusammen. »Ich möchte nur kurz mit Ihnen reden«, sagte ich.
Ich fragte mich, ob sie sich aus Angst vor mir hierher geflüchtet hatte. Andererseits war ein einsamer Friedhof nicht gerade ein guter Zufluchtsort. Was wollte sie hier?
Sie nickte langsam; ich bemerkte einen kleinen Leberfleck unter ihrem rechten Auge. »Worum geht’s?«, brachte sie hervor.
»Ich habe Sie in der Nacht zum Freitag vor dem Brautmodengeschäft von Frau Rosen-Winkler beobachtet.«
»Von«, sagte sie.
»Was?«
» Von Rosen-Winkler. Hat sie Ihnen noch nicht klar gemacht, dass sie eine Baronin ist?« Ihr Blick wurde trotzig. Sie wirkte plötzlich wie ein kleines Kind.
»Sie haben ein Delikt begangen«, erklärte ich. »Sachbeschädigung. Frau von Rosen-Winkler hat mich beauftragt, der Sache nachzugehen. Und nun habe ich Sie gefunden.«
Wieder ein neuer Ausdruck in ihrem Gesicht: Triumph. Sie streckte die Arme aus. Wo die Ärmel des Sweatshirts zurückrutschten, zeigten sich Sommersprossen.
»Los«, rief sie. »Verhaften Sie mich. Führen Sie mich ab. Diese dumme Kuh wird sehen, was sie davon hat.« Sie gab sich einen Ruck und setzte noch etwas nach. »Die Scheißhochzeit kann sie sowieso vergessen.«
Mir war klar, was hier gespielt wurde, aber mir waren Sülzbachs Liebschaften egal. Obwohl ich ihn beneidete. Das Mädchen gefiel mir.
»Ich bin kein Polizist. Aber ich muss Ihren Namen und Ihre Adresse notieren.«
Sie ließ die Arme sinken, stand auf und machte sich an ihrem Rucksack zu schaffen. Jetzt, wo sie ihrem Frust durch Schimpfen Luft verschafft hatte, schien ihre Angst verflogen zu sein. »Machen Sie, was Sie wollen. Ich arbeite solange ein bisschen.« Sie öffnete die Schnalle des Rucksacks und holte eine Kamera heraus.
»Was arbeiten Sie denn?«, wollte ich wissen.
»Ich fotografiere.«
»Hier auf dem Friedhof?«
»Warum nicht? Es ist nicht der schlechteste Ort für stimmungsvolle Bilder.«
Sie drehte am Objektiv herum und sah ein paarmal durch den Sucher. Dann ging sie auf den Hauptweg, hockte sich hin und prüfte den Blick auf die Säule, die ich auf dem Weg hierher gesehen hatte.
»Sind Sie Journalistin?«, rief ich ihr nach.
»Nein. Ich mache die Fotos einfach so.«
Sie ließ den Auslöser schnalzen.
»Kunstfotografin?«
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