Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
Staub abgesetzt hatte. Der Flur war mit Kiefernholz vertäfelt und an der Wand neben der Garderobe waren mit Heftzwecken Plakate befestigt; eins war ein Aufruf zu einer 1.-Mai-Demonstration in Göteborg, ein anderes zeigte ein antikapitalistisches Zeltlager: Occupy Stockholm! Vom Flur aus gingen mehrere Türen ab. Eine Gästetoilette. Ein winziger Wirtschaftsraum, in dem eine Waschmaschine und ein Trockenschrank standen. Eine ebenfalls holzvertäfelte Küche. Über dem Küchentisch hing eine rot lackierte Lampe, die die Form einer Halbkugel hatte. Forss hatte in ihrer Wohnung in Berlin die gleiche gehabt, es war eine Ikea-Lampe und sie wusste sogar noch, wie viel sie damals dafür bezahlt hatte. Die Küche war aufgeräumt, aber nicht besonders sauber. Auf der Wachstuchtischdecke war ein Milchfleck, in der Spüle stand eine Schüssel mit aufgeweichten Cornflakesresten. Am Kühlschrank war mit Magneten ein ausgerissenes Kochrezept befestigt: gefüllte Auberginen. Forss öffnete die Kühlschranktür. Käse, Butter, Milch. Etwas Gemüse. Zwei Flaschen Leichtbier und eine offene Dose Hundefutter. Gewürzsaucen. Auf dem gefliesten Boden standen zwei Näpfe, einer war mit Wasser gefüllt, der andere mit Trockenfutter.
Das Wohnzimmer war mit dunklem Teppichboden ausgelegt, auf dem das Hundehaar deutlich zu sehen war. In der Mitte des Raumes standen ein gekachelter Couchtisch und eine unmoderne, helle Sofagruppe. Ein bulliger Fernseher auf einer TV-Bank. Ein DVD-Spieler, auf dem die Hülle eines Films lag, Apocalypse Now . Eine Stereoanlage und ein CD-Turm. Forss erkannte Thelonious Monk, Charles Mingus und Chick Corea, Jazzlegenden. An der Wand ein schlecht gemaltes, abstraktes Gemälde ohne Signatur. Ein großes Fenster und eine Glastür wiesen in den Garten: ein grasbewachsenes Viereck, in dem zwei Apfelbäume standen. Über den Rasen hüpfte eine Elster. Im Schlafzimmer waren die Rollos runtergelassen. Es roch muffig, so als ob die Bettwäsche schon länger nicht mehr gewechselt worden wäre. Auf dem Boden vor dem Bett stand ein Laptop. Forss setzte sich auf die Bettkante, nahm den Rechner auf den Schoß und öffnete den Bildschirm. Der Computer fuhr aus dem Schlafmodus. Der Mediaplayer war geöffnet, Pixel bewegten sich, eine Frauenstimme stöhnte auf, Forss erkannte wippende Brüste, Hände, ein lustverzerrtes Gesicht in Nahaufnahme. Kein professioneller Pornofilm, eher eine Privataufnahme. Sie sah eine Minute zu, dann klappte sie den Laptop wieder zusammen und stellte ihn zurück auf den Boden. Durch die Ritzen der Rollläden drangen Lichtstrahlen wie Klingen, die Streifen in den Fußboden ritzten. Selbst auf den Holzdielen vor dem Bett lagen Hundehaare.
Das Badezimmer war weiß gekachelt. Auf dem Boden lagen Schmutzwäsche, feuchte Handtücher und vor der Toilette ein aufgeklapptes Magazin, Ordfront , ein linkes Politik- und Kulturjournal. Im Waschbecken klebten Zahnpastareste und auf der Ablage darüber standen Rasierzeug und ein Deo.
Als Letztes betrat Forss das Arbeitszimmer. Ein großer Schreibtisch voller Unterlagen. Ein Stapel Klassenarbeitshefte. Sie schlug eins auf. Eine krakelige Jungenhandschrift.
Die alten Römer gewannen eine Menge Schlachten und unterwarfen viele Völker . Am Rand Anmerkungen in roter Tinte.
Ein Aschenbecher voller Kippen und daneben ein Beutel Tabak. Dieselbe Marke, aus der sich Delgado seine Zigaretten drehte. Über dem Schreibtisch Fotos, mit Stecknadeln an der Tapete festgepinnt: fremde Frauen und Männer in Dahlins Alter, Schnappschüsse, Gruppenfotos, Porträts. Ein Foto des Retrievers, den sie tot auf Musön gefunden hatten. Eine sehr hübsche, ungeschminkte Frau mit einem Mittsommerkranz im Haar. Eine Demonstration, auf der Fahnen wehten. Menschen, die um ein Lagerfeuer saßen. Dahlin in Shorts und dem Panamahut von der Garderobe an einem Strand. Ein junger Dahlin mit Bart in einem Renault 4. Ein noch jüngerer Dahlin in einem gestreiften Fußballtrikot. Ein Schwarz-Weiß-Bild von zwei nackten Kleinkindern auf einem Pferd, das von einem lachenden Mann mit altmodischer Sonnenbrille am Zaumzeug gehalten wurde.
Neben den Fotos hing ein Poster des Jazzsaxofonisten John Coltrane, das eingerissen war. Auf der anderen Seite ein gerahmtes Porträt einer Frau. Forss erkannte Rosa Luxemburg.
An den anderen Wänden deckenhohe Bücherregale: Belletristik, Geschichtswerke, eine Lexikonreihe. Ein gutes Dutzend Bände Marx und Engels. Forss zog Das Kapital heraus. Das Buch wirkte, als sei
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