Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
vorbei?«
»Mmh«, machte Ekelund und kratzte an seiner großporigen Nase. »Es war schon fast dunkel, also muss es spät gewesen sein. Vielleicht so gegen elf, halb zwölf? Die Straßenbeleuchtung war jedenfalls schon an, als der Wagen hier durchpreschte. Es war ja so warm gestern Nacht, da habe ich hier lange gesessen, auf den See hinausgeschaut und geraucht. Ganz schön Radau hat der Wagen gemacht! Die Scheiben runter und die Musik aufgedreht. Rock ’n’ Roll lief da, aber so richtig laut aufgedreht.«
»Und da bist du dir sicher? Mit diesem Haiwagen und der Rockmusik?«, fragte Hultin.
Ekelund hustete, ein fürchterliches Geräusch. Dann griff er nach den Zigaretten, die vor ihm auf dem Gartentisch lagen, und zündete sich eine an.
»Nein«, bellte er. »Keine Rockmusik. Rock ’n’ Roll, hatte ich gesagt. Ich erkenne doch Jerry Lee Lewis, wenn ich ihn höre!«
»Ich glaube, ich kenne den Wagen«, sagte Lindholm. »Ein mattschwarzer Saab 96 mit Weißbandreifen und Haifischmaullackierung? Raggar-Ronny fährt so einen Schlitten.«
»Wer?«, fragte Hultin.
»Raggar-Ronny ist so ein Rockabillytyp. Eigentlich heißt er Ron Norrquist. Sein Bruder ist in meiner Uni-Hockeymannschaft.«
»Genau!«, krächzte der Alte und blies Rauch in die Luft.
15
Mike Connor hatte rote Hektikflecken im Gesicht. In Kombination mit seinem dunklen Fünftagebart und dem Klecks Vanilleeis auf seinem Kinn ergibt sich ein interessanter Farbeffekt, dachte Lars Knutsson. Für Hektik, Eis und im weiteren Sinne wohl auch für die nachlässige Rasur waren die Kleinkinder verantwortlich, von denen zwei auf ihrem Vater herumkletterten, während sich ein drittes unter dem Küchentisch zu schaffen machte und Knutssons rechten Fuß mit etwas übergoss, das sich klebrig anfühlte und intensiv nach Himbeere roch.
»Die Mutter ist verreist«, seufzte Connor, »und das noch vier Tage.«
»Jo, nichts ist so schön wie die Vaterzeit«, wusste Knutsson. »Man hat endlich einmal so richtig viel Zeit für die Kleinen.« Nicht, dass er selbst jemals Vaterzeit genommen hatte, bei keinem seiner drei Kinder, die mittlerweile längst erwachsen waren. Wenn aber sein Enkelsohn, Oskar, jeden zweiten Sonntag zu Besuch kam, dann fand er es prima, das vitale Bürschchen für eine Viertelstunde auf dem Schoß zu haben.
»Ja, nicht wahr?«
Connor rang sich ein Lächeln ab.
»Wir sind so dankbar, dass wir die Drillinge haben.«
Knutsson nickte wohlwollend, trotz seines feuchten Fußes. Eins der Kinder, er war sich nicht sicher, ob es ein Junge oder ein Mädchen war, schnitt eine Fratze in seine Richtung. Das andere steckte seinem Vater einen vanilleeistropfenden Finger ins Ohr.
»Also, weshalb ich hier bin: dein Nachbar, Janus Dahlin, was kannst du mir über den sagen?«
»Janus? Tja ... Ein netter Kerl. Ein guter Typ. Hilfsbereit und alles ... Hat mir noch letzten Monat geholfen, das Spielhaus im Garten aufzubauen. Handwerklich sehr geschickt, mit Autos kennt er sich auch aus, überhaupt mit allem, wozu man Werkzeug braucht ... Mensch, Ebba!«
Eins der vielen Kinderbeine war nach vorne geschnellt und hatte eine Tüte Milch umgestoßen. Die weiße Lache floss über den Tisch und suppte auf Connors Schoß und auf den Boden. Ebba fing an zu weinen und ihr Brüderchen oder Schwesterchen stimmte mit ein. Nur unter dem Tisch blieb es still, der dritte Blondschopf war damit zufrieden, mit einem Spielzeugauto an Knutssons haarigem Bein hoch und runter zu fahren und den Fruchtsirup in dekorativen Doppelstreifen auf der Haut zu verteilen.
»Ein Fummler und Bastler, könnte man sagen. Und dann hatte er seinen Politkram. Diese Abende, da war er regelmäßig. Das schien ihm wichtig zu sein.«
Connor manövrierte die zwei Schreihälse auf den Boden. Prompt schossen sie aus der Küche ins angrenzende Wohnzimmer, wo es aussah, als sei dort ein Sack Lego explodiert.
»Ansonsten ... Man kennt sich leider kaum. Die Arbeit, die Kinder ... Mit einer Familie lebt man doch irgendwie in seiner eigenen Welt.«
Er angelte das dritte Kind unter dem Tisch hervor und balancierte es auf seinem Knie, was ihm eine Himbeerspur quer durchs Gesicht einbrachte.
»Nun ist die Kriegsbemalung komplett«, lachte er und Knutsson lachte mit ihm.
16
Wir sind Großstadtindianer , hatte Lehmann gesagt.
Stina Forss stand vor den Regalen voller Bücher und Ordner. Spurensuche: ein Archiv geronnenen Lebens.
Plötzlich musste sie an den Traumfänger denken, der über dem Bett ihres kranken
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