Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
von unkontrollierten Wutausbrüchen gewesen, die ihre Beziehung zu ihm in eine Sackgasse geführt hatte, aus der es keine Umkehr gab, ebenso wenig wie aus ihren gescheiterten Beziehungsversuchen vorher. Ihr war nur die Flucht geblieben, wie immer. Deshalb war sie nun wieder hier, im Land, in dem sie aufgewachsen war. In dem ihr Vater lebte.
Nein, dachte sie. Das stimmte nicht. Hier war das Land, in dem ihr Vater starb. Im Begriff war zu sterben. Und bevor das geschah, musste sie verstehen. Sein brutales Erbe begreifen, das sie jeden Morgen sah, wenn sie in den Spiegel schaute.
Ihr schiefes Gesicht.
Das hängende Augenlid.
Die Narben auf ihrem Hals.
Seit gestern lag ein Brief von Sebastian in einem braunen Umschlag ungeöffnet auf der Kommode in ihrem Flur. Ein Brief, den sie nicht öffnen, nicht lesen würde. Sie wusste auch so, was darin stand. Sie kannte seine Bitten, sein Flehen. Aber es gab kein Zurück. Nicht zu ihm, nicht nach Berlin.
Es gab nur ein Vorwärts.
Sie traf eine Entscheidung. Von Rydaholm in der Nähe des Furensees nach Ljungby war es nur ein kleiner Umweg. Links und rechts der Landstraße wechselten sich dichte Nadelwälder und Weiden ab. Zweimal entdeckte sie Pferdekoppeln, häufiger grasende Kühe. Kurz dachte sie an das, was Moa Matsson über die fallenden Milchpreise erzählt hatte. Im Radio spielte ein Sender aus Växjö Hits aus den Siebzigern und Achtzigern, zwischen den Songs wurden Autohäuser und Landmaschinen beworben und eine aufgedrehte Moderatorin plauderte mit Anrufern über Pläne für das kommende Mittsommerwochenende, meistens ging es um Alkohol. Als Bonnie Tylers Total Eclipse Of The Heart angespielt wurde, schaltete sie das Radio aus. An der Windschutzscheibe des Polos platzten Insekten wie reifes Obst. Sie hinterließen hässliche gelbe Flecken, die auch der Scheibenwischer nicht wegbekam.
Auf dem Parkplatz des Pflegeheims standen wenige Fahrzeuge. Sie stellte ihren Wagen unter den ausladenden Ästen einer Kiefer ab. Am Eingang nickte sie der Frau hinter der Glasscheibe zu. Man kannte sie. Seit drei Monaten kam sie einmal in der Woche her, meistens sonntags. Die Flure mit den petrolfarbenen Linoleumböden waren leer. Wie immer roch es nach Reinigungsmitteln und menschlichen Ausscheidungen. Der weiche Boden dämpfte das Klackern ihrer hochhackigen Schuhe und auch sonst alle Geräusche von außerhalb. Das Heim Skatabo war ein Ort der Stille. Eine Endstation. Kjell Forss hatte die Zimmernummer vierundzwanzig. Stina Forss klopfte, dann öffnete sie die Türe und trat in den Raum. Die orangefarbenen Vorhänge waren vor die geöffneten Fenster gezogen und bewegten sich leicht; gedämpftes, farbiges Licht, das keine Schatten warf, fiel ins Zimmer und färbte den weißen Wollteppich vor dem Bett ihres Vaters gelb. Sie stellte die Schale mit den Erdbeeren, die sie unterwegs gekauft hatte, auf dem Tisch in der Zimmermitte ab und setzte sich auf den Stuhl neben das Bett. Ihr Vater schlief, sein Gesicht war zur Wand gedreht. Der breite Rücken hob und senkte sich gleichmäßig unter dem Laken. Die fleischige Narbe über seinem Ohr glänzte; die schmutzfarbenen Bartstoppeln auf seiner Wange knisterten wie Sandpapier, wenn sie mit dem Finger darüberfuhr. Neben den Medikamenten auf dem Nachttisch standen unter einer Plastikhaube die Reste des Mittagessens. Auf der Unterseite des matten, halb durchsichtigen Kunststoffs hatten sich Tropfen aus Kondenswasser gebildet. Warum räumte denn niemand das Essen ab, fragte sie sich, es war doch schon längst Nachmittag. Lange blieb sie so sitzen, die Hand auf der Wange des Mannes, der sie und ihre Mutter geprügelt hatte. Sie streichelte den warmen, sterbenden Körper ihres Vaters. Und obwohl sie sich wie jedes Mal Mühe gab, in sich hineinhorchte und inbrünstig hoffte, empfand sie überhaupt nichts.
16
Als schließlich alle einigermaßen zur Ruhe gekommen waren, ihren Platz gefunden und sich gesetzt hatten, zählte Nyström zehn Personen im Raum, sich selbst inbegriffen. Ihr gegenüber am langen, ovalen Tisch im Besprechungszimmer saß Magnus Hasselgreen, flankiert von seinen Eltern, einem Anwalt und einer Mitarbeiterin des Jugendamtes. An den Längsseiten hatte ein Jugendpsychologe Platz genommen, außerdem Delgado, der Protokoll führte, Knutsson, den sie als erfahrenen Kollegen schätzte, Hultin und auch ihr Chef, Edman, der der Öffentlichkeit möglichst schnell einen Täter präsentieren wollte. Magnus Hasselgreen war ein schmächtiger
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