Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
Junge mit gesenktem Blick. Sein lückenhafter Bartflaum mühte sich, seine pickelige Gesichtshaut zu verbergen. Er trug ein helles Hemd, das zu groß für ihn war, und hatte die Haare zu einem Scheitel gekämmt, der sich allerdings schon in der Auflösung befand. Nyström hatte, was Kleidung und Frisur des Teenagers betraf, eine Blitzaktion der Mutter in Verdacht, damit der Junge möglichst seriös wirkte. Karin Hasselgreen selbst hatte sich jedenfalls in Schale geworfen, eine anämische Frau Mitte vierzig, deren schickes Kostüm viel zu warm für die Jahreszeit war. Ihr Mann dagegen, Tomas Hasselgreen, Typ Ausdauersportler mit einem verhärmten Gesichtsausdruck, trug Jeans und teuer aussehende Laufschuhe. Knut Karlsson, der Anwalt der Familie, der auch Strafverteidiger war und den Nyström seit Jahren aus verschiedenen Prozessen, bei denen sie ausgesagt hatte, kannte, räusperte sich.
»Was genau wirft die Polizei meinem Mandanten vor? Wessen soll sich Magnus schuldig gemacht haben?«
Nyström sah die misstrauischen Blicke der Eltern. Der Junge selbst hatte noch immer seinen Kopf gesenkt.
»Zuerst einmal geht es hier weder um Vorwürfe noch um Schuld. Es geht um Fragen.«
»Um Ungereimtheiten«, fügte Hultin an.
»Warum er gelogen hat«, brummte Knutsson.
»Also doch ein Vorwurf!«, rief der Anwalt.
»Das sind Vorverurteilungen!«, schrie der Vater und zeigte auf Knutsson.
Die Mutter legte einen Arm um den Jungen.
»Alles der Reihe nach«, sagte die Frau vom Jugendamt.
»Nicht in dem Ton«, fauchte Knutsson.
»Sachte, sachte«, bemühte sich der Psychologe zu beschwichtigen.
Alle redeten durcheinander. Eine Minute verging, zwei. Delgado hielt sich demonstrativ die Ohren zu, Hultin verdrehte die Augen und legte dem schimpfenden Knutsson eine Hand auf die Schulter. Der Psychologe redete auf Tomas Hasselgreen ein. Irgendwann wurde es Nyström zu bunt.
»Ruhe, verflixt noch mal!«, rief sie und ließ ihre Hand auf den Tisch krachen.
Alle sahen sie an. Tatsächlich wurde es ruhig im Raum.
»Wie wollen wir jetzt verfahren?«, fragte Anwalt Karlsson.
»Also ...«, hob Nyström an.
»Ich möchte mit der Kommissarin sprechen.« Die Stimme von Magnus Hasselgreen war klar und hell. Zum ersten Mal hatte er aufgesehen. Von seinem Kopf stand eine gegelte Haarsträhne ab, wie eine Antenne. Sein Gesicht glühte.
»Allein«, sagte er.
Zu diesem Zeitpunkt war es 18.54 Uhr. Im Westen stand die Sonne noch immer hoch über der Domkirche. Der Himmel war wolkenlos.
17
Als man sich schließlich auf die Rahmenbedingungen geeinigt hatte, war es 19.57 Uhr. Eine Stunde voller Feilschen und Diskutieren. Der Anwalt hatte gezetert und immer wieder auf die Eltern und die Polizisten eingeredet. Der Psychologe und die Sozialarbeiterin vom Jugendamt hatten ernste Bedenken geltend gemacht. Die Mutter hatte einen Weinkrampf bekommen und Tomas Hasselgreen hatte seinen Sohn beschworen, um Gottes willen den Mund zu halten, was Knutsson wiederholt dazu provoziert hatte, verbal auf den Vater loszugehen. Edman hatte mit dem Hinweis Feierabend gemacht, man möge ihn doch bitte verständigen, wenn es neue Ergebnisse gäbe, Delgado hatte sich zurück an seinen Rechner gesetzt, Hultin hatte sich bemüht, Knutsson im Zaum zu halten und Nyström hatte vermittelt, beschwichtigt und juristische Feinheiten erläutert. Nur Magnus Hasselgreen war still gewesen und hatte mit gesenktem Blick abgewartet. Verständigt hatte man sich endlich auf Folgendes: Ingrid Nyström würde mit Magnus Hasselgreen ein Gespräch unter vier Augen führen. Dabei sollte es sich um einen informellen Austausch handeln. Es war ausdrücklich kein Verhör und keine der möglichen Aussagen des Jungen würde protokolliert oder juristisch verwendet werden. Sollte die Polizei nach diesem Gespräch ein offizielles Verhör wünschen, würde dieses anschließend im Beisein des Anwalts, des Psychologen und eines Elternteils vorgenommen. Die Atmosphäre im Besprechungszimmer war extrem angespannt, Karin Hasselgreen schluchzte noch immer, ihr Mann kaute auf seinen schmalen Lippen herum, Anwalt Karlsson hatte in seinem weißen Hemd schallplattengroße Schweißflecken unter den Armen. Lars Knutsson futterte eine 300-Gramm-Tüte Erdnüsse leer und Anette Hultin nippte unablässig an einem Energydrink. Jeder rechnete damit, dass der Junge etwas Entscheidendes zur Ermittlung zu sagen hatte, wahrscheinlich ein Geständnis. Um 20.03 Uhr verließen alle bis auf Ingrid Nyström und Magnus
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