Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
Hasselgreen den Raum. Bevor sich die Türe schloss, drängte sich noch einmal Delgado herein. Er reichte Nyström einen Zettel.
»Aus den Tiefen des Internets«, flüsterte er, dann war er wieder draußen.
Nyström warf einen Blick auf das Papierblatt. Delgado war gut. Das, was er gefunden hatte, konnte in der Tat nützlich sein. Sie rückte ihren Stuhl zurück und faltete die Hände vor sich auf der Tischplatte. Magnus saß ihr gegenüber, seine Frisur war endgülig in Auflösung begriffen. Er beugte sich vor und trank von der Cola, die man ihm hingestellt hatte. Dann kramte er in seiner Hosentasche. Er beförderte eine Dose Kautabak heraus und sah Nyström fragend an. Sie nickte. Er steckte sich einen Streifen Priem in den Mund und schob ihn mit der Zunge in die Backentasche. Dann ließ er wieder seinen Kopf hängen und sah auf den Boden. Sie fragte, ob seine Eltern von dem Tabak wüssten. Er schüttelte den Kopf. Sie fragte, ob seine Eltern überhaupt oft mit ihm reden würden. Wieder verneinte er. Sie wartete eine Weile. Man konnte sehen, dass es in ihm arbeitete. Er schob sich die Haare hinter die Ohren. Aber noch blieb er still. Er war noch nicht so weit. Sie versuchte es anders. Sie fragte, ob er früher einmal ein Haustier gehabt hatte. In seinem Gesicht geschah etwas, eine Erinnerung. Ja, sagte er, einen Hund, einen Mischling, Bellman. Der sei aber bei einem Unfall gestorben, als er noch sehr klein gewesen war. Unter ein Auto gekommen. Nyström tastete sich weiter heran. Sie fragte nach den Tieren. Warum Magnus auf sie geschossen habe. Diesmal reagierte nicht nur sein Gesicht, sondern sein ganzer Körper. Er rang mit sich und kratzte die unreine Haut unter seinem fusseligen Bärtchen. Sein Blick war immer noch auf den Boden gerichtet. Schließlich fand er Worte.
»Am Anfang ist doch alles nur ein blödes Spiel gewesen.«
Er und zwei Kumpel. Sie hatten Krieg gespielt, sich im Wald mit Matsch und Stöckern beworfen. Später mit Froschlaich. Monate darauf eine Wette, eine Mutprobe. Wer traute sich, Frösche aufzublasen? Wer traute sich, sie an Bäume zu nageln? Irgendwann gab es ein bisschen Ärger, Mitschüler hatten gepetzt, Elterngespräche wurden geführt. Im Jahr darauf hatte er eine Armbrust bekommen, dann den historischen Bogen. Er solle seine Aggressionen kanalisieren, haben seine Eltern gesagt. Das habe er dann auch getan, das mit dem Kanalisieren. Er jage gern, sagte er. Wie ein Indianer, mit Pfeil und Bogen. Vögel, Kaninchen, Eichhörnchen. Meistens treffe man ja eh nicht, fügte er hinzu, aber manchmal halt schon.
Was das für ein Gefühl sei, fragte Nyström. Zu treffen?
Wieder kratzte er seine Pickel auf. Ein gutes, antwortete er. Irgendwie ein ziemlich gutes Gefühl. Nyström dachte an den Zettel, den Delgado ihr gereicht hatte. Den Ausdruck aus einem Chat von Mitschülern von Magnus Hasselgreen.
»In der Schule nennen sie dich Das Knie . Warum?«
Erschrocken sah er zu ihr auf. Zum ersten Mal blickte er ihr direkt in die Augen. Sie waren blau.
»Woher weißt du ...?«
Dann knickte sein Hals wieder ein und sein Kinn sackte zurück auf die Brust. Er sprach nicht weiter, aber sie verstand auch so. Magnus Hasselgreen sah nicht auf den Boden, er sah auf sein Knie. Er konnte Menschen nicht in die Augen sehen, wenn er sprach. Wenn er redete, dann sah es so aus, als redete er mit seinem Knie.
Ein junger Mensch ohne Selbstbewusstsein.
Ein gebrochenes Rückgrat.
Ein demütigender Spitzname.
»Und Janus Dahlin?«, fragte sie vorsichtig.
Wieder zögerte er lange. Die Haarantenne wippte auf seinem Kopf. Nyström verspürte den starken Impuls, den Jungen in den Arm zu nehmen und an sich zu drücken. Gleichzeitig stand sie unter Hochspannung. Er war jetzt ganz kurz davor, auch wenn sie nicht genau wusste, wovor. Aber sie ahnte, dass es etwas Großes, Wichtiges war. Magnus griff nach der Coladose und trank. Dann sprach er, ohne aufzublicken.
»Er, also Janus, war ganz okay. So als Lehrer, meine ich. Er war ganz witzig und alles. Bei ihm stand ich in Geschichte auf einer Zwei. Das war doppelt so gut wie vorher bei der alten Inger Willander, dabei habe ich mich gar nicht mehr angestrengt. Es war einfach so, dass er gut erklären konnte und interessanten Unterricht machte. Jedenfalls mochte ich ihn eigentlich. Bis zu dem Tag, als er das mit dem Namen aufgeschnappt hatte.«
»Dem Knie.«
»Ja. Irgendjemand hat es in die Klasse gerufen und viele haben gelacht und er musste auch lachen, weil er es
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