Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
südlichen, dem Växjösee zugeneigten Seite der Kirche erkannte sie Delgado und zwei weitere Kollegen in Uniform. Sie standen auf Höhe des dritten Fensters an der karminrot getünchten Fassade und schienen etwas zu begutachten, das sich an oder auf der Wand befand. Einer der Streifenpolizisten leuchtete mit einer leistungsstarken Stabtaschenlampe ins Zwielicht. Der Lichtkegel glitt am Mauerwerk entlang. Nun war sie nah genug, um selbst zu sehen. Im roten Putz waren Einschusslöcher. Unregelmäßig gezackte weiße Krater. Viele, vielleicht fünfzig oder mehr. Sie bildeten ein Muster. Einen Stern. Fünfzackig, mit durchgezogenen Linien.
Hultin kam auf sie zugelaufen, in der Hand hielt sie ein Funkgerät.
»Es hat noch woanders geknallt. In der Filiale von der Nordea-Bank in der Kronobergsgatan.«
Die Straße lag parallel zur Linnégatan und die Bankfiliale, von der Hultin gesprochen hatte, war zu Fuß keine drei Minuten von der Domkirche entfernt. Der Reporter folgte ihnen. In der Kronobergsgatan bot sich ein ähnliches Bild wie vor der Kathedrale. Ein Streifenwagen hatte vor der Bank geparkt und die Beamten hatten notdürftig ein Absperrband vor der Fassade des Gebäudes gespannt. Davor stand eine kleine Traube von Menschen und redete durcheinander. Auf einem Stück Mauerwerk neben dem Eingang formten Einschusslöcher einen fünfzackigen Stern.
»Noch einer«, sagte Delgado.
Der Blitz einer Fotokamera flammte hinter ihnen auf und tauchte die Szenerie für den Bruchteil einer Sekunde in grelles Licht.
2
Nachdem die verschreckten und schlaftrunkenen Anwohner so gut es ging beruhigt worden waren, lösten sich die Grüppchen vor der Bank und der Domkirche nach und nach auf und die Leute kehrten wieder in ihre Wohnungen zurück. Niemand hatte etwas Auffälliges gesehen und außer den dröhnenden Maschinenpistolensalven auch nichts Ungewöhnliches gehört. Nyström hatte die beiden Tatorte sichern lassen und Örkenruds Team angefordert, zudem fuhren verstärkt Streifenwagen in der Innenstadt Patrouille. Viel mehr konnte sie im Moment nicht tun. Nichts deutete darauf hin, dass jemand bei dem seltsamen Anschlag körperlich zu Schaden gekommen war. Die Polizisten fanden in der Nähe der Bank und der Kathedrale weder Blut- noch andere Spuren, stattdessen zwei Obdachlose, einen im Linnépark hinter der Kirche unter den Bäumen auf einer Bank, den anderen im Eingang eines teuren Küchenartikel-Geschäfts in der nahen Fußgängerzone. Beide schliefen einen Rausch aus. Delgado hatte die Idee gehabt, das Videomaterial der Kamera zu überprüfen, die oberhalb des Geldautomaten in der Wand des Bankgebäudes montiert war, und war dabei, jemand Zuständigen ans Telefon zu bekommen.
»Ich verstehe das nicht«, sagte Hultin. »Ich meine, was soll das? Wer ballert mit einem Automatikgewehr oder einer MP mitten in der Nacht auf eine Kirche? Und eine Bank? Und dann diese Sterne oder was das sind. Wie krank ist das denn? Hast du schon einmal mit einer Uzi oder so etwas Ähnlichem geschossen, Ingrid?«
Nyström schüttelte den Kopf. Jetzt, wo das Adrenalin weg war, nahm sie die unglaubliche Müdigkeit in ihrem Körper wahr. Ihre Muskeln schmerzten.
»Ich schon. In der Armee haben wir regelmäßig mit automatischen Waffen trainiert.«
Nyström fiel ein, dass Hultin vor ihrer Zeit bei der Polizei eine Offiziersausbildung abgeschlossen hatte. Sie war in einem Leistungssport-Kader gewesen, Leichtathletik, Siebenkampf. So lange, bis ihr Mann, Trainer und Vorgesetzter sie vor Jahren für eine andere Frau verlassen hatte, wie man hörte, für eine Teamkollegin mit bosnischen Wurzeln. Warum die Kollegen, die darüber tratschten, immer die Herkunft dieser Frau betonten, blieb Nyström allerdings ein Rätsel. Als ob der Verlust, den Hultin hatte erleiden müssen, weniger schmerzhaft gewesen wäre, wenn ihr Exmann mit einer Schwedin oder Dänin durchgebrannt wäre.
»Und wenn du mich fragst, war hier ein ausgebildeter Schütze am Werk. Mit so einer Waffe schießt du nicht mal eben so ein präzises Muster in die Wand. Dazu gehört Können und vor allem Übung. Das riecht nach einem militärischen Hintergrund. Oder organisierter Kriminalität.«
»Mmh ...«, machte Nyström. »Wo bekäme man überhaupt so eine automatische Waffe?«
»Ich kenne Berichte von Auseinandersetzungen zwischen Rockerbanden, wo Maschinenpistolen und andere Automatikwaffen aufgetaucht sind. Das war allerdings in Mittelschweden, in Karlstad und Eskilstuna. Malmö
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