Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
Grund ist?«, fragte sie. »Was, wenn er den Leichnam Dahlins nur deshalb zu dem Turnier bringt, weil er sichergehen will, dass es wenigstens einen gibt, der seine Inszenierung versteht? Der sein Werk richtig interpretieren kann. Eine Art Übersetzer, sozusagen.«
»Das wäre doch verrückt«, sagte Hultin leise.
»Da hast du ausnahmsweise recht«, sagte Delgado.
In diesem Moment ging die Tür auf und Per Rydberg, der an der Rezeption Dienst hatte, trat in den Raum.
»Ingrid, die Kollegen aus Lessebo haben gerade angerufen. Es gibt einen weiteren Toten. Und die Umstände sind wohl alles andere als normal.«
4
Der schwere Volvo raste mit Blaulicht den Kalmarvägen hinunter, der später zur Landstraße 25 wurde. In südöstlicher Richtung ging es durch die Orte Furuby und Hovmantorp hinein in den dichten Fichtenwald, ins Herz des sogenannten Glasreichs, wo seit vier Jahrhunderten Glas geblasen wurde, weil es hier seit jeher alles im Überfluss gab, was dazu vonnöten war: Quarzsand, Brennholz und Wasser. Ingrid Nyström musste an die teuren Vasen denken, die im Wohnzimmer von Sara Saale standen. Die Glashütten Kosta-Boda und Orrefors hatten es mit wertvollen Spitzenprodukten zu Weltruhm gebracht, produzierten allerdings auch Zier- und Gebrauchsgegenstände, die aus dem Geldbeutel einer normalen Polizistin zu bezahlen waren, wie das Set Weingläser in Nyströms Küchenschrank oder die sogenannten Schneebälle , schwere, gläserne Teelichthalter mit einer rauen Oberfläche, in denen sich das Licht auf eine besondere Weise brach.
Lessebo lag fünfunddreißig Kilometer von Växjö entfernt, zwischen den Seen Öjen und Läen. Außer einem antiken Papierwerk, wo noch heute Papier von Hand geschöpft wurde, gab es in dem Dreitausendseelendörfchen wenig Aufsehenerregendes. Die Touristenströme zog es fünfzehn Kilometer weiter, nach Kosta, wo die berühmten Glashütten, ein Design-Hotel sowie ein Outlet-Shoppingcenter lockten.
Hultin, die am Steuer saß, schaffte die Strecke in zwanzig Minuten, was angesichts der schmalen Straße und der hohen LKW-Dichte eine beachtliche Leistung darstellte. Außer ihr und Nyström befanden sich noch Lars Knutsson und Stina Forss im Wagen, ein zweites Auto mit einem schlecht gelaunten, übermüdeten Örkenrud und seinem Team sowie Ann-Vivika Kimsel folgte ihnen. Delgado und Lindholm waren im Präsidium geblieben.
Das Haus, in dem der Tote gefunden worden war, lag in einem Wohngebiet, in dem die Grundstücke sehr großzügig geschnitten waren. Wenn es in Lessebo etwas im Überfluss gab, dann war es Platz. Vor dem gelb gestrichenen Holzhaus standen ein unbesetzter Streifenwagen und ein Postfahrrad mit einer angehängten Tasche voller Briefe. Drei Erwachsene, wahrscheinlich Nachbarn, und einige Kinder auf Fahrrädern hatten sich vor dem Haus versammelt, betraten jedoch nicht das Grundstück. Die Fassade des Hauses war schmutzig, der Anstrich so schorfig und verwittert, dass sich einzelne Holzleisten bereits bogen. Auch die Dachrinne war schadhaft, hatte sich zu Teilen gelöst und stand vom Dach ab. Sie gingen die Auffahrt entlang auf den Eingang zu. Das Moos und das Unkraut in den Fugen der groben Steinplatten war schon lange nicht mehr entfernt worden. Die Haustür stand offen. Ein uniformierter Beamter trat heraus, Nyström kannte ihn flüchtig. Er war blass und wirkte angespannt.
»Geradeaus durch. Er ist im Wohnzimmer.«
»Habt ihr schon einen Namen?«
»Olof Andersson. Ein Briefträger.«
»Ist das sein Fahrrad auf dem Bürgersteig?«
»Nein. Das gehört Amina Ducaj. Das ist die Zustellerin, die ihn gefunden hat. Er selbst war Landbriefträger.«
Er sah in vier fragende Gesichter.
»Also, richtig Land, meine ich. Weit draußen. Mit dem Auto.«
Nyström nickte.
»Ist sie noch hier? Amina Ducaj?«
»Nein. Wir haben sie zum Arzt gebracht. Ihr ging es nicht gut ... Aber seht selbst.«
Er wies ins Haus und sie traten ein.
5
Während die anderen durch den schmalen, niedrigen Flur in der Tiefe des Hauses verschwanden, blieb Forss im Eingangsbereich stehen. Sie konnte am besten denken, wenn sie allein war. Sie griff in ihre Handtasche und holte Plastikhandschuhe heraus, die sie überstreifte. Als Erstes untersuchte sie die Garderobe, ein Kunststoffungetüm in zwei verschiedenen Grüntönen. Fiese Siebzigerjahre, dachte sie. Dort hingen zwei Postjacken, eine dicke, gefütterte für den Winter, ein leichter Blouson für die wärmeren Monate. Ein Wollmantel. Eine helle
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