Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
lächeln.
»Nein, ich bin eine Polizistin.«
»Aber du hast ja gar keine Uniform!«, sagte der Junge.
Die anderen Kinder lachten. Dann stemmten sie sich wie auf ein Kommando in die Pedalen und radelten die Straße hinab. Hultin sah ihnen nach, bis sie um die Ecke gebogen waren. Dann wischte sie sich mit dem Ärmel ihrer Bluse den Schweiß von der Stirn und machte sich an die Befragung der Nachbarn.
9
Forss ging aus dem Garten in das Haus zurück. Das Wohnzimmer ließ sie zunächst aus, dort war noch die Spurensicherung am Werk und der Leichnam wurde gerade abtransportiert. Die Hände von Olof Andersson hatte man ebenfalls im Aquarium gefunden. Sie betrat das Badezimmer. Die Kacheln und die sanitären Einrichtungen waren babyblau und ähnlich altbacken wie die Kücheneinrichtung, jedoch noch nicht alt genug, um schon wieder schick zu sein. Entweder hatte Andersson ein Faible für die Siebziger gehabt, oder es war ihm schlichtweg egal gewesen, wie er lebte. Dem schludrigen Gesamteindruck und dem Fehlen jeglicher persönlichen Note zufolge traf wohl eher Letzteres zu, dachte sie.
Auf dem Waschbeckenrand lag ein Elektrorasierer, das Kabel steckte in der Steckdose oberhalb des verspiegelten Badezimmerschränkchens aus rosafarbenem Kunststoff. Ein Stück Seife. Im Waschbecken Zahnpastareste und Haare. Sie öffnete die Spiegeltüren. Verbandszeug, ein Deo, eine Vorratspackung Duschgel. Feuchtigkeitscreme, ein Nagelknipser – dem aufgeklebten Plättchen zufolge ein Souvenir aus Mallorca – und Medikamente. Die meisten Namen der Präparate sagten ihr nichts, aber sie erkannte einige Wirkstoffe: Diazepam, Tetrazepam, Bromazepam. Das waren Tranquilizer. Downer. Sie fand Betablocker, wahrscheinlich gegen Bluthochdruck, und Diclophenac, ein Mittel gegen Gelenkschmerzen. Sie schloss die Schranktüren wieder. Auf der Ablage über dem Waschbecken stand ein ausgewaschenes Senfglas, in dem eine abgenutzte Zahnbürste lehnte. Sie warf einen Blick in die Badewanne. Das Leitungswasser musste sehr eisenhaltig sein, es hatte im Laufe der Zeit bräunliche Ablagerungen auf der hellblauen Keramik hinterlassen. Wahrscheinlich hatte Andersson im Garten eine Grundwasserpumpe. So etwas fand man auf dem Land sehr oft. Sie verließ das Bad und ging ins Schlafzimmer. Im Laufe der Jahre hatte ihre Erfahrung sie gelehrt, dass der Raum, in dem man schlief, besonders viel über einen Menschen erzählen konnte. Vielleicht lag das auch an der Menge an Zeit, die man dort verbrachte. Schlafzimmer sind die Nester, die wir uns bauen, dachte sie.
Nach dieser Theorie musste Andersson ein einsamer, farbloser Vogel gewesen sein. Die gleiche, nichtssagende Tapete wie im übrigen Haus, kein Wandschmuck, ein schmales, einfaches Bett, verwaschene Bettwäsche. An einer Wand ein unschöner, gelblicher Wasserfleck, vielleicht die Folge der defekten Dachrinne, die sie draußen gesehen hatte. Ein Nachttisch, auf dem ein halb volles Glas Wasser stand. Ein Bücherregal. Dostojewski, Strindberg, ein Krimi, ein Sachbuch über Aquaristik. Auf dem Boden vor dem Bett ein aufgeschlagenes Comicheft, Captain America . In der Nachttischschublade eine Armbanduhr und eine Taschenlampe. Ein Kleiderschrank, der muffig roch und in dem mäßige Ordnung herrschte. Zerknitterte Hemden, Pullover in gedeckten Farben, Jeans und Baumwollhosen, ein Anzug. Eine Schublade mit Socken, eine mit Unterwäsche. In der untersten Schublade – noch mehr Comics. Acht Stapel, jeweils etwa zwanzig Zentimeter hoch. Forss blätterte die Hefte durch. Ausnahmslos amerikanische Superhelden der beiden großen Verlage Marvel und DC. Das ganze Zeug, das seit Jahren im Kino eine Renaissance erfuhr: Spiderman , Hulk , Batman , Die Fantastischen Vier . Wolverine und Iron Man . Da hat sich jemand seine kindliche Seite bewahrt, dachte Forss. Hinter den Schubladen ein Sack mit aussortierter Wäsche. Sie schüttete sie auf den Fußboden. Löchrige Socken, fadenscheinige Unterwäsche, zwei verschlissene Trainingsjacken aus synthetischen Stoffen, wie sie schon lange nicht mehr getragen wurden; eine blaue mit weißen Streifen von Adidas und ein No-Name-Produkt, braun mit einem gelbroten Doppelstreifen. Sie stopfte das Zeug zurück in den Sack und schloss die Schranktür.
10
Amina Ducaj, die Briefzustellerin, die Olof Andersson gefunden hatte, war eine drahtige Frau mittleren Alters mit langem schwarzem Haar und einer auffällig geschwungenen Nase. Ihre Augen waren rot, als hätte sie geweint, und ihre
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