Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
hatte.
Ihr Blick sprang zurück zu dem Sessel. Dahin, wo der Kopf einmal gewesen war. Am Hals ein sauberer Schnitt. Aorta, Vene, Halswirbelknochen, Rückenmark. Ihr Bewusstsein spuckte all diese Worte aus, Dinge, die sie vor langer Zeit einmal gelernt hatte. Im Biologieunterricht, beim Erste-Hilfe-Kurs, auf der Polizeihochschule.
Sie sah die fehlenden Hände.
Die völlig zertrümmerten Beine.
Das Blut hatte einen Großteil des hellen Velourssessels schwarz gefärbt, nur an den Rändern franste der Fleck rosa aus.
Die weiße Haut des Körpers hob sich in einem starken Kontrast davon ab. Nur das Schamhaar des Mannes war ebenfalls schwarz.
6
Nyström ging aus dem Haus heraus, zurück ins Tageslicht. Es fühlte sich an, als würde sie aus der Hölle treten. Genau so empfand sie es. Sie hatte noch nie in ihrem Leben etwas gesehen, was annähernd so grauenhaft gewesen war. Dieser fürchterliche enthauptete Körper, dem man die Hände, die Persönlichkeit, alles Menschliche genommen hatte. Der entstellte Kopf im Aquarium. Die Unmenge an Blut. Die Übertötung. Immer wieder dachte sie an den Begriff, den Ann-Vivika Kimsel in Bezug auf den Zustand von Janus Dahlins Leichnam benutzt hatte. Sie spürte den plötzlichen Drang zu beten, so als müsse sie diesem von Gott verlassenen Ort etwas entgegensetzen.
Sie sprach stumme Gebete. Wortmuster, die sie seit fünfzig Jahren in sich trug. Sie dachte an Anders, an die Töchter, an ihre Enkelkinder. Lieber Gott, dachte sie, gib mir Kraft! Gib mir die Kraft, das hier zu überstehen, dem hier gewachsen zu sein. Schenke mir die Gabe zu begreifen, welche Kräfte hier am Werk sind. Zu verstehen, was hier geschieht. Die richtigen Schlüsse zu ziehen. Die nötigen Schritte einzuleiten. Das hier zu beenden. Und Gott: Bitte mach, dass ich keinen Brustkrebs habe.
Sie fühlte eine Hand auf ihrer Schulter. Die kehlige Stimme von Stina Forss, die immer klang, als habe die kleine Frau viele Jahre lang intensiv geraucht. Jetzt erst nahm sie wahr, dass sie sich hingesetzt hatte. Ihr Hintern war feucht und ihre helle Hose hatte Grasflecken.
»Entschuldigung, was hast du gesagt?«
»Ich will eine Waffe.«
»Bitte?«
»Ich will eine Dienstwaffe. Das ... da drinnen ... Zwei Morde in drei Tagen, einer grausamer als der andere ... Wenn das überhaupt möglich ist. Fakt ist, dass zwei Mörder frei herumlaufen. Oder einer, was wahrscheinlich noch beunruhigender wäre, wenn man weiter darüber nachdenkt. Wer sagt, dass es dabei bleibt? Wer sagt, dass wir es nicht mit einem regelrechten Blutrausch zu tun haben? Ingrid, du hast mich gebeten, euch bei der Ermittlung zu unterstützen. Das möchte ich auch tun, denn das ist es, was ich am besten kann. Worin ich gut bin. Worin ich jahrelange Erfahrung habe. Im Gegensatz zu irgendwelchen stupiden Verkehrskontrollen. Ich helfe euch. Gerne. Aber um meine Arbeit machen zu können, brauche ich eine vernünftige Ausrüstung und dazu gehört um Himmels willen noch mal eine Dienstwaffe.«
Nyström erhob sich. Die Frauen standen voreinander. Der Scheitel von Forss ging Nyström gerade einmal bis zum Kinn, aber die Deutschschwedin hatte ein Funkeln in ihren zusammengekniffenen grünen Augen, vor dem man Angst bekommen konnte. Willenskraft, dachte Nyström, sie war selten einem Menschen mit so viel Willenskraft begegnet.
»Ja«, sagte sie. Ihre Stimme klang kraftlos. »Du bekommst deine Waffe.«
7
Auch Knutsson hatte sich zunächst einmal sammeln müssen. Er war seit mehr als dreißig Jahren Polizist, aber so etwas hatte er noch nicht erlebt. Einmal, er war noch ein junger Mann gewesen, da war er an einen Tatort gekommen, wo ein Vater im Vollrausch seine Familie erschlagen hatte. Das war schlimm gewesen und er hatte lange mit den Bildern zu kämpfen gehabt, die sich in seine junge Seele eingebrannt hatten, Abdrücke des Bösen. Aber das hier, erst der Tote am See, nun der kopflose Leichnam, war schlimmer, eine Steigerung. Dies hier war kein Zornausbruch im Suff, kein Amoklauf, keine Übersprunghandlung. Hier verfolgte jemand einen teuflischen Plan, davon war Knutsson überzeugt. Und das machte ihm Angst.
Die Häuser in der Straße waren alle beinahe baugleich, auch wenn die anderen deutlich gepflegter waren als das von Olof Andersson. Er und Hultin hatten sich die Befragung der Nachbarn nach Straßenseiten aufgeteilt. Ann-Vivika Kimsels vorläufige Ermittlung des Todeszeitpunkts hatte ergeben, dass Andersson in den frühen Morgenstunden ermordet worden war.
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