Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
gab es keinen Platz für grausame Morde. Oder gerade doch? Sie musste an die Fernsehkrimis denken, die Anders so gerne sah. In dem Genre war Mittsommer wohl anders aufgeladen als in ihrer Welt, aber es war nicht auszuschließen, dass dieses Jahr an Mittsommer wirklich ein Mord geschehen würde. Eine grauenhafte Vorstellung.
Sie schaute hinunter auf die Wiesen und Weiden neben dem frei stehenden Haus und folgte ihrem Impuls, dorthin zu gehen, zu den Feldblumen und den Steinen. Könige der Steine, so hatte man früher die Bauern in Småland genannt. Mit harter körperlicher Arbeit hatten sie die großen Brocken vom Acker schaffen müssen und links und rechts der Felder zu Mauern aufgetürmt, bevor sie mit dem Pflug die Erde bearbeiten konnten. Nyströms Blick glitt entlang der jahrhundertealten Steinmauern bis zum Waldrand. Heutzutage war es schwer, sich vorzustellen, wie jeder dieser Millionen Steine mit bloßen Händen zurechtgelegt worden war. Hier draußen auf den Weiden und Feldern, weit weg von Büchern und Museumsräumen, lag die Geschichte der einfachen Männer Smålands. Und natürlich die der Frauen. Bestimmt hatte es auch die Königinnen der Steine gegeben. Aber davon redete man nicht. Sie fragte sich, ob Edman denselben abwertenden Ton benutzt hätte, um Berg zurechtzuweisen. Irgendwie konnte sie es sich schwer vorstellen. Dafür hatte Berg zu viel Integrität besessen. Er hätte es nicht zugelassen. Aber sie? Warum bemerkte sie ihre eigene Wut erst auf dem Weg nach Hause?
Es geht hier um deine Karriere, Ingrid.
Zum Teufel mit der Karriere! Sie riss mit der Hand eine Gemeine Schafgarbe aus dem Boden. Der Stiel war so robust und zäh, dass die Wurzeln mit hochkamen. Zwischen den Fingern rieb sie die Blume langsam zu Krümeln. Sie hatte sich so schutzlos gefühlt. Beinahe nackt. Und dann der Knoten in ihrer Brust. Warum war sie nicht schon längst zu einem Arzt gegangen? Warum hatte sie das immer weiter aufgeschoben? Und tat es noch. Sie kannte die Antworten. Jetzt konnte sie nicht. Wenn sie das Ergebnis schwarz auf weiß bekäme, konnte sie die Ermittlung hinschmeißen. Entweder Krebs oder ein Doppelmörder. Beides würde sie nicht meistern können. Sie bückte sich und pflückte eine Margerite. Eins nach dem anderen zog sie die Blütenblätter ab und flüsterte dabei. Gutartig, bösartig, gutartig, bösartig.
Als sie damit fertig war und das letzte Blütenblatt abgerissen hatte, war sie noch wütender als zuvor. Sie warf die kahl gerupfte Blume auf den Boden. Wie verrückt hatte die Angst sie eigentlich bereits gemacht? Versuchte sie sich mit Hokuspokus zu beruhigen? Zu ängstlich, um zum Arzt zu gehen, zu feige, um mit Anders zu reden, aber sich in einer lauen Sommernacht dem Aberglauben hingeben? Hatte sie den Kontakt zu sich selbst und der Realität verloren? Es war höchste Zeit, schlafen zu gehen. Bevor sie umdrehte und wieder Richtung Haus ging, warf sie einen letzten Blick auf die Feldmauer, die von Flechten überwuchert war. Die Königinnen der Steine, dachte sie. Auf einmal fühlte sie sich mit ihren Vorfahren sehr verbunden. Für die Ahnen war der Aberglaube eine Strategie gewesen, mit Schwierigkeiten umzugehen, gewachsen aus der Not. Vielleicht machte er das Leben manchmal ein wenig einfacher. Sie bückte sich und brach den Stil einer weiteren Margerite. Von Westen her kam ein kühler Nachtwind auf.
21
Ich hätte es verhindern können, dachte Zeuner.
Aber das hatte er nicht getan, im Gegenteil. Er hatte es nicht nur zugelassen, nein, er hatte sogar darauf gewartet, dass es passierte. Er hatte Andersson geopfert. Ein Bauernopfer, gestorben für ein höheres Ziel, für sein Ziel, das letzte, das ein alter Narr wie er noch hatte: Helenas Rettung.
Und sein Plan war aufgegangen, er hatte die Fährte des Racheengels aufnehmen können, wenn auch zu einem hohen Preis.
Hätte es andere Wege gegeben? Eine Möglichkeit, Anderssons Leben zu schonen? Sicher, musste er sich eingestehen. Natürlich. Alle Möglichkeiten der Welt. Er hatte beides in seiner Hand gehabt, Anderssons Leben und Helenas Sicherheit. Aber wenn er ehrlich war, wenn er wirklich in die Tiefen seines Herzens blickte, so wie es ihn die Ärztin in der Klinik während seines Entzugs gelehrt hatte, musste er sich eingestehen, dass Helenas Sicherheit nicht das war, was er in Wahrheit wollte.
Er wollte viel mehr als ihre Rettung.
Er wollte sie.
Er wollte sie zurück.
Der grausame Engel, der ihm den Weg wies, würde seine Arbeit nicht
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