Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
mitgenommen aus.
Sie gingen durch eine kleine, sterile Wartehalle nach draußen. In der Taxihaltebucht stand ein roter Volvo, der sich mit einem Piepen und einem Lichtsignal aufschloss, als Raipanen auf seinen Schlüssel drückte.
»Wir fahren erst einmal in unser Präsidium, dort könnt ihr euch ein wenig frisch machen. Die Kollegen, die mit mir in Norsjö am Tatort waren, und ich, wir sind gespannt zu hören, was ihr aus Växjö zu berichten habt. Danach werden wir rausfahren, aber es ist ein ganzes Stück, etwa achtzig Kilometer.«
Die weiten Strecken und die großen Distrikte der nordschwedischen Polizei waren Nyström in der Theorie nicht neu, aber was sie in der Realität bedeuteten, begann sie erst jetzt zu ahnen. Die Landstraße war in schlechtem Zustand, mehrmals musste Raipanen abrupt ausweichen, um die vielen Schlaglöcher zu umfahren.
»Der letzte Winter war wie immer hart. Wir hatten viel Schnee. Was für eine Überraschung hier oben. Die Bürokraten in Stockholm haben einfach keine Ahnung, was es bedeutet, die Infrastruktur unter solchen Bedingungen in Schuss zu halten. Das Geld, das wir zugeteilt bekommen, reicht vorne und hinten nicht. Seit der Bahnhof vor vielen Jahren stillgelegt wurde, bleibt uns ja nicht viel anderes übrig, als zu fliegen.«
»Der Bahnhof wurde stillgelegt?«, fragte Nyström.
»Angeblich rechnet er sich nicht. Dass hier oben auch Leute leben müssen, interessiert doch bei der Eisenbahn keine Sau.«
Es ist wirklich eine andere Welt hier oben, dachte Nyström. Eine Welt, die ihr und so vielen anderen Schweden unbekannt war. Von allem, was nördlich von Stockholm oder vielleicht noch gerade von Uppsala lag, hatte sie nur ein diffuses Bild. Rechts und links der Straße lagen von Wald begrenzte Felder. Graue verwitterte Holzhütten waren darauf zu erkennen, die meisten sehr heruntergekommen, viele in sich zusammengesackt. Gab es hier oben überhaupt noch Landwirtschaft? Irgendwie kam es ihr so vor, als würden die windschiefen Hütten aus einer längst vergangenen Zeit stammen und wegen Landflucht und Modernisierung langsam verrotten. Dabei war die Besiedlung Norrlands ein recht junges Phänomen in der Geschichte, abgesehen von den Samen, die als Nomaden aber nicht sesshaft gewesen waren. Wenn sie sich nicht irrte, waren die nordschwedischen Küstenstädte erst im Laufe der Industrialisierung entstanden, als arme Arbeiter und deren Familien hier angesiedelt wurden, um Rohstoffe abzubauen. Vor allem Holz: die großen Sägewerke, in denen die Arbeiter Ende des vorletzten Jahrhunderts gestreikt hatten. Die Wiege der sozialistischen Bewegung. Soweit sie wusste, waren die Sozialdemokraten immer noch recht stark hier. Aber ob es noch Sägewerke gab? Sie dachte kurz an den Reichtum von Sara Saale. Altes Geld, aus Holz gemacht. Gab es hier oben noch ursprünglichen Wald? Richtigen Urwald, in dem die Bäume nicht in Reihen standen?
»Was sagst du dazu?«
Raipanen warf ihr hinter seinem Lenkrad einen fragenden Blick zu. Dann sah er wieder auf die Straße.
»Oh, Entschuldigung, ich habe gerade nicht zugehört, was hast du gefragt?«
»Ob du denkst, dass es möglich ist, die Reichskriminalpolizei herauszuhalten, jetzt, wo man davon ausgehen kann, dass das Opfer mit euren beiden Toten zusammenhängt.«
Nyström überlegte. Sie war es nicht gewohnt, mit Kollegen aus anderen Distrikten über solche brisanten Probleme zu reden, woher denn auch? Noch war der Fall ihr nicht weggenommen worden. Oder besser gesagt, die Fälle. Die Frage irritierte sie. Was sollte sie jetzt dazu sagen? Sie dachte an Gunnar Bergs Rat, sich nicht vorzeitig auf eine Ermittlungsrichtung festzulegen.
»Darüber will ich nicht spekulieren. Solange wir keine eindeutige Verbindung zwischen den Toten feststellen können, möchte ich noch nicht davon ausgehen, dass die Morde unbedingt miteinander zu tun haben. Wenn die Reichskrim das anders sieht, denke ich, dass sie einen Fehler begeht.«
»Stimmt, wir sollten keine vorschnellen Schlüsse ziehen. Ich fühle mich nur gerade etwas überfordert. Ihr solltet zuerst den Leichnam sehen.«
Raipanens Stimme klang müde.
Nyström sah ihren Kollegen an und dabei stiegen ihr beinahe die Tränen in die Augen. Mit Erstaunen stellte sie fest, dass er sich traute, das auszusprechen, was sie in den letzten Tagen gefühlt hatte: Überforderung. Sie realisierte, dass sie hier jemanden hatte, mit dem sie auf Augenhöhe war, der mit derselben Verantwortung wie sie dastand, mit
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