Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
Växjöer Doppelmorden stand. Sie war skeptisch. Sicher, da war die Art und Weise, wie Frederika Hakelius gestorben war. Natürlich ähnelte das dem Tod dieser Märtyrerin, der heiligen Korona oder Stephana. Aber ein Beweis war das lange noch nicht. Da war zum einen die unumstößliche Tatsache, dass Hakelius eine Frau war. Sollte der Täter tatsächlich das Muster geändert haben, nachdem er mit Dahlin und Andersson zwei Männer getötet hatte? Hatte er überhaupt ein Muster, in dem Sinne, in dem psychopathische Serientäter ein Muster haben? Nichts an diesen Taten wies auf einen Lust- oder Triebtäter hin. Es gab nur das bizarre, religiös anmutende Ritual: frühchristliche Märtyrer.
Zum Zweiten war da der beträchtliche räumliche Abstand zwischen Småland und Västerbotten. Sollten sie es wirklich mit ein und demselben Täter zu tun haben, dann musste er seit vorgestern Nacht weit über tausend Kilometer zurückgelegt haben. Das war natürlich möglich, sprach aber nicht dafür, dass sich jemand seine Opfer zufällig suchte, wie es meistens bei Serienmorden der Fall war. So bestand, soweit sie wusste, in über achtzig Prozent aller untersuchten Serienmorde keine Verbindung zwischen Täter und Opfern. Wenn es also derselbe Täter war, dann hatten sie es höchstwahrscheinlich mit einer Ausnahme zu tun und es gab eine Verbindung zwischen dem Mörder und seinen Opfern. Nur worin bestand sie?
Außerdem mussten sie die Möglichkeit eines Trittbrettfahrers in Betracht ziehen. Gar keine so unrealistische Variante. Der Märtyrermörder ging spätestens seit der gestrigen Pressekonferenz durch sämtliche Medien und konnte Nachahmer auf den Plan gerufen haben. Es waren auch Fälle bekannt, in denen Täter bekannte Mordszenarien nachstellten, um die Tat einem bekannten Serienmörder anzuhängen und ihre eigenen Motive zu verbergen. All das mussten sie in Betracht ziehen.
Forss blätterte weiter in der Akte. Dann sah sie das Foto der Frau. Die Haare auf ihren Armen stellten sich auf. Sie spürte einen metallischen Geschmack im Mund. Das Bild zeigte nicht den Leichnam von Frederika Hakelius, sondern eine Porträtaufnahme. Eine gut aussehende Geschäftsfrau in Bluse und mit Perlenkette. Sie erkannte sie sofort, auch wenn sie auf dem Bild fünfzehn, zwanzig Jahre älter war: Es war eindeutig die Frau aus dem Sexvideo, das sie auf Dahlins Laptop gefunden hatte. Es gab nicht den Hauch eines Zweifels.
6
Der Himmel hatte sich zugezogen, dennoch war es weiterhin um die dreißig Grad warm. Eine feuchte, sumpfige Hitze, die Nyström benommen machte. Das Licht hatte sich verändert; weder Sonne noch Tageszeit waren auszumachen, über ihren Köpfen dräute ein schwefeliges, unbewegtes Grau. Gnitzen und Gewittertierchen umgaben sie, aufdringlich, kaum abzuschütteln. Auf ihrem Arm schlug sie mehrere der Viecher platt, sie blieben am Schweiß auf ihrer Haut kleben. Auch Forss und Raipanen waren aus dem Volvo ausgestiegen. Sie standen auf einer zerfurchten, schottrigen Straße, vor ihnen ein Laubwaldhain, die Bäume jung, keiner höher als zehn, zwölf Meter. Am Straßenrand standen bereits mehrere Autos, darunter ein Streifenwagen.
»Es geht ein Pfad durch das Wäldchen, etwa zweihundert Meter. Er führt zu einem kleinen See, dort steht auch das Ferienhaus der Familie. Ich dachte, ihr wollt erst den Tatort sehen, bevor wir den Ehemann treffen.«
»Ja«, sagte Nyström, »in Ordnung.«
Das schwüle Wetter bereitete ihr Kopfschmerzen, auch ihr Magen rumorte. Mein Körper wehrt sich, dachte sie. Er rebelliert gegen das, was vor uns in diesem Wäldchen liegt. Etwas, das so unmenschlich, so furchtbar war, dass man es nicht begreifen konnte. Weder mit dem Körper noch mit dem Verstand. Und dann war da noch das Ziehen in ihrer Brust, das immer stärker wurde. Ich sollte gar nicht hier sein, dachte sie. Ich sollte jetzt nicht durch diesen norrländischen Wald stapfen, in der Erwartung, gleich einen der grauenerregendsten Tatorte der schwedischen Kriminalgeschichte zu betreten, sondern in einer freundlich eingerichteten Praxis in Kristianstad sein und den Termin bei dem Spezialisten wahrnehmen, den Ann-Vivika für mich arrangiert hat. Dass es beim desolaten Zustand des öffentlichen Gesundheitswesens tatsächlich geklappt hatte, von heute auf morgen einen Termin für eine Mammografie zu bekommen, grenzte an ein Wunder und war allein Ann-Vivikas Bemühungen zu verdanken: durch Herumtelefonieren, Überredenskunst und dem Einfordern eines
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