Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
fertig war und den Blick hob, sah er in fragende Gesichter.
»Klingt unheimlich«, befand Hultin in einem Versuch, ihrem jungen Kollegen beizuspringen, auch wenn sie nicht verstanden hatte, worauf Lindholm hinauswollte. » Die Vernichter eines schönen Dinges .«
Delgado gluckste: » Schönen Dings. «
Hultin verzog ihr Gesicht.
»Du bist so widerlich, Hugo!«
»Ich dachte mir, damit könnte Dahlin gemeint sein«, sagte Lindholm. »Er wurde schließlich vernichtet. Und irgendwie attraktiv war er ja offensichtlich auch. Ich meine, mit seinen ganzen Frauengeschichten und so. Irgendwas müssen sie ja an ihm gefunden haben.«
»Gute Überlegung«, lobte Nyström.
»Also doch ein Mord aus Eifersucht?«, fragte Edman.
»Aber wie passt dann Andersson in dieses Bild?«, warf Delgado ein.
»Rainer Maria Rilke ist ein bekannter deutscher Dichter«, sagte Forss.
»Deutsch?«, fragte Knutsson. »Dahlin hat angeblich im Schlaf auf Deutsch geredet, berichtet seine Freundin Sara Saale. Wohl, weil er dort mal studiert hat, in Deutschland. Sie vermutet, ihm sei dort etwas Schlimmes widerfahren, etwas Traumatisches oder so. In Österförde im Herz.«
»Osterode im Harz«, verbesserte Forss und erläuterte den anderen, was Sara Saale ihnen erzählt hatte.
»Ein linker Lehrer mit deutschen Albträumen. Das wird ja immer schöner«, meinte Freddy, der Computermann aus Jönköping.
»Und ein einzelgängerischer Postbote mit einem seltsamen Musikgeschmack«, fügte sein Kollege Henrik an.
»Und beide hatten den gleichen Jogginganzug«, murmelte Forss und rieb sich die Augen. Ihr Blick fiel durch die Panoramascheibe auf die müden Weiden. Der Westwind hatte nachgelassen und die Abendsonne tauchte den Parkplatz in oranges Licht. Über dem Imbiss kreisten die Krähen. Es war 20.37 Uhr und noch immer über zwanzig Grad.
14
Der Peilsender tat zuverlässig seinen Dienst. Zeuner brauchte nur dem roten Blinken auf dem Display an seinem Armaturenbrett zu folgen. Der Kurs des Racheengels führte nach Norden, immer weiter nach Norden. Linköping, Södertälje, Stockholm. Dann Gävle, Hudiksvall, Örnsköldsvik, immer weiter die Küste hinauf. Links von ihm lag endloser Nadelwald, rechts der Bottnische Meerbusen, dahinter irgendwo Finnland. Er folgte der Fährte nunmehr seit sechzehn Stunden, hielt nur, um zu tanken und Alkohol zu kaufen. Im Systembolaget in Uppsala hatte er sich eine neue Flasche Wodka besorgt, doch das war lange her, bald würde er Nachschub brauchen. Mehr als tausend Kilometer waren sie seit Lessebo bereits gefahren, aber die Straße schien kein Ende zu haben. Das ganze Land schien kein Ende zu haben. Er warf einen Blick auf die Karte. Umeå, Skelefteå, Luleå hießen die nächsten Städte, danach hörte das Meer auf und das Land wuchs mit Finnland zusammen. Dann ging es nur noch nach Norden weiter. In die wahre Wildnis, Kiruna. Und nach der Taiga die Tundra. Oder war es umgekehrt?
Er wusste nicht, wohin der Engel wollte. Aber das war auch egal. Er musste nichts weiter tun, als dem roten Blinken zu folgen. Dem tropfenden Blut. Denn es genügte zu wissen, wen der Engel wollte, an welche Tür er als Nächstes pochen würde, um sein Werk zu vollenden.
Er dachte an das Manifest des Rächers.
Es war nicht Helena.
Dafür war es noch zu früh.
Aber es gab noch eine andere Frau.
Die Schutzpatronin des Geldes.
Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, wo doch alles in einer Bank seinen Ursprung genommen hatte. Zeuner hatte versucht, die Aufzeichnungen des Todesengels zu entziffern. Vieles war im Zwielicht geblieben, aber manches hatte er begriffen:
Den großen Verlust.
Die langen Jahre in der Dunkelheit.
Den Weg aus dem Wahn ins Licht.
Es gab durchaus Parallelen zu ihm selbst, wenn er ehrlich war.
DONNERSTAG
1
Stina Forss wachte auf. Ihr Handy klingelte. Sie tastete nach dem Gerät, das neben ihr auf dem Nachttisch lag, und sah auf das Display.
Nyström stand da.
Vier Uhr dreiundzwanzig.
Es musste etwas passiert sein, ein dritter Toter, sie wusste es sofort. Noch bevor sie das Gespräch annahm, spürte sie eine seltsame Aufregung. Ihre Atmung, ihr Puls beschleunigten sich. Es war kein unangenehmes Gefühl.
Fünfundvierzig Minuten später saß sie in der übersichtlichen Wartehalle des Växjöer Flughafens. Die meisten Bahnhöfe sind größer als das hier, dachte sie. Nyström kam mit zwei Bechern Kaffee auf sie zu und setzte sich ohne etwas zu sagen neben sie. Der Gesichtsausdruck ihrer Chefin war
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