Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
denselben Qualen und Ängsten. Abgesehen davon, dass er wahrscheinlich keinen Tumor in seiner Brust hatte.
»Wir schaffen das schon«, sagte sie leise und drehte sich zu Forss um, die auf der Rückbank saß. Doch die junge Frau hatte von dem Gespräch nichts mitbekommen. Sie hatte Kopfhörer in den Ohren, sah aus dem Seitenfenster und kaute trotzig auf ihrer Unterlippe. Plötzlich wusste Nyström nicht mehr, ob es wirklich klug gewesen war, statt der ranghöheren Anette Hultin oder dem loyalen Lars Knutsson die komplizierte Deutschschwedin mitgenommen zu haben.
3
Das Polizeipräsidium von Skellefteå lag in der Strandgatan, unten am Fluss und direkt neben der Bundesstraße E4, die quer durch die Stadt verlief. Gegenüber, auf der anderen Flussseite, konnte man den kleinen Hochschulcampus sehen. Als Nachbarstadt von Umeå, einer der größten Universitätsstädte Schwedens, hatte Skellefteå es nicht einfach, sich akademisch zu behaupten. Jetzt, im Sommer, wirkte der Campus wie ausgestorben. Raipanen stellte Nyström und Forss seinen Kollegen vor, zwei jüngeren Männern und einer Frau mittleren Alters. Alle gaben sich die Hand, es wurden Zimtschnecken serviert und frischer Kaffee. Mittlerweile war es früher Nachmittag. Nyström fiel auf, dass die Kaffeetassen nicht zueinanderpassten, an einer fehlte sogar der Henkel. Dafür schmeckten die Gebäckstücke richtig gut. Selbst gebacken. Jemand machte einen Witz über das gute Wetter, ein anderer über das bevorstehende Mittsommerfest. Polizisten-Small-Talk, man lachte. Wir wärmen uns auf, dachte Nyström, wir tänzeln drum herum. Weil wir noch nicht bereit sind, in den Ring zu treten. Weil das, was darin ist, zu schrecklich ist, um es zu begreifen. Wir sind wie Boxer, die sich vorbereiten, Luftschläge abfeuern, auf der Stelle hüpfen. Statt uns die Hände zu bandagieren, die Handschuhe zu schnüren, trinken wir Kaffee, essen Süßgebäck und plaudern über das Wetter. Das ist der Schutz der Polizisten.
Schließlich schob Raipanen das Service beiseite und legte eine Akte auf den Tisch. Die heitere Stimmung verschwand so schnell, wie sie gekommen war. Er blätterte darin, dann las er vor.
»Frederika Hakelius, 46 Jahre, verheiratet, zwei Kinder.«
»Eine Frau?«, fragten Nyström und Forss synchron.
»Ja«, sagte Raipanen.
»Das ist gegen alle Wahrscheinlichkeit«, sprudelte es aus Forss heraus. »Das spricht gegen alles, was man über Serientäter weiß. Es kann sich nicht um denselben Mörder handeln!«
Nyström sah zu Raipanen. Er hob beschwichtigend die Hand.
»Ich weiß, ich weiß. Ich kenne die Theorien. Aber ganz so unbedarft sind wir hier oben auch nicht. Ich habe euch nicht ohne Grund hierhergebeten. Seht euch das bitte an.«
Er schob einen Ausdruck über den Tisch, sodass die beiden Ermittlerinnen ihn sehen konnten.
»Was ist das? Wer ist das?«
»Das ist eine mittelalterliche Abbildung der heiligen Korona, eine frühchristliche Märtyrerin. Manchmal wird sie auch heilige Stephana genannt. Die Schutzpatronin des Geldes, der Fleischer und Schatzgräber.«
»Noch eine Heilige? Das wäre wirklich eine Serie. Wir hätten tatsächlich einen Serientäter. Und das in Schweden«, sagte Nyström.
»Wie ihr hier seht, wird die heilige Korona mit zwei Palmen dargestellt.«
»Was hat es damit auf sich?«, fragte Nyström.
Raipanen sah zu seinen Kollegen. Dann räusperte er sich.
»Nun ja, in Schweden wachsen bekanntlich keine Palmen. Aber Eschen. Vereinzelt sogar hier oben in Skellefteå. Junge Eschen sind außerordentlich biegsam.«
»Ja, aber was ...«
Der Ausdruck in den Gesichtern der vier norrländischen Kollegen ließ Nyström innehalten.
»Hier sind die Fotos von Frederika Hakelius. Ich wollte euch auf den Anblick vorbereiten.«
Er schob Nyström und Forss eine Mappe zu. Forss öffnete den Aktendeckel. Beide Frauen legten ihre rechte Hand auf den Mund. Wieder synchron.
»Oh, mein Gott«, sagte Nyström.
Forss linkes, herabhängendes Augenlid zitterte. Sie flüsterte etwas, auf Englisch. Etwas, das Nyström nicht begriff.
»Angel of Death
Monarch to the kingdom of the dead
Infamous butcher
Angel of Death.«
»Was?«, fragte Nyström.
»Nichts«, sagte Forss. »Nur ein Lied.«
4
Für die achtzig Kilometer bis zum Tatort nach Norsjö brauchten sie mehr als eine Stunde. Die breite Landstraße führte gerade Richtung Westen. Nyström saß vorne und folgte mit aufmerksamem Blick der vorbeirauschenden Landschaft. Hier hatte sie ihren
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