Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
Urwald. Hoch und dicht standen die Tannen am Wegrand, Kilometer um Kilometer. Da und dort zweigten kleinere Straßen nach rechts und links ab und Schilder mit Ortsnamen zeugten davon, dass irgendwo tiefer im Wald Dörfer und Ortschaften lagen, in denen Menschen lebten oder einmal gelebt hatten. Für Nyström fühlte es sich an wie das Ende der Welt. Sie versuchte sich die Ortsnamen zu merken: Långbäck, Svanström, Svanfors. Ein Bach, ein Strom, ein Wasserfall. Wälder und Wasser, das war Norrland. Um Skellefteå herum schien es auch Sümpfe gegeben zu haben, die Namen der Orte wiesen darauf hin: Burträsk, Bodaträsk, Varuträsk. Wilde Natur, die von der Zivilisation gezähmt worden war. Sie mochte die Namen und den melodischen nordschwedischen Akzent, mit dem sie ausgesprochen wurden. Der Klang passte zur Landschaft.
»Wir fahren auf dem sogenannten Silberweg, die Strecke zwischen Skellefteå und Bodö in Norwegen«, sagte Reipanen, der hinter dem Steuer neben ihr saß. »In den Rönnskärwerken in Skellefteå werden Silber und andere Metalle verarbeitet und in Boliden, wo wir gleich vorbeikommen, liegt eins der größten Erzfelder Schwedens. Hier ist die Wiege des schwedischen Reichtums.«
Boliden, der Name war Nyström bekannt, aber sie hatte dabei immer nur an das Unternehmen gedacht, nie an einen Ort.
»Leider haben sie alle ihren Hauptsitz in Stockholm, dorthin fließt das Geld. Und unsere ehrgeizige Jugend gleich hinter her. Wir bluten aus. Das ist wohl das Traurige in der Provinz.«
Nyström dachte nach. Im Vergleich zu Boliden war Växjö die reinste Metropole und das Motto der Stadt, Växjö wächst , zeugte von einer optimistischen Wachstumserwartung, die tatsächlich viele junge Familien anzog. In den kleineren Kommunen in Småland sah es da schon anders aus.
»Auch bei uns müssen die dünn besiedelten Landstriche um ihr Überleben kämpfen«, sagte sie. »Mittlerweile gibt es ganze Dörfer, in denen Dänen und Deutsche die Häuser gekauft haben und die nur im Sommer belebt sind. Früher hat es mich wütend gemacht, aber nun denke ich, es ist gut, dass sich überhaupt jemand um die alten Häuser kümmert.«
»Ja, ich habe selbst ein kleines Sommerhaus nördlich von Skellefteå, draußen am Meer. Da ist es auch so ähnlich. Aber Furugrund ist ein sehr besonderer Ort. Am Ende des 19. Jahrhunderts blühte er wegen des Sägewerks auf, um in den Zwanzigerjahren, als der sogenannte Sägewerkstod die nordschwedischen Küstenstädte traf, wieder zu schrumpfen. Ganz starb die Ortschaft aber nicht aus, der Hafen war noch da und über eine Seilbahn wurde bis in die Fünfzigerjahre Papiermasse dorthin transportiert und verschifft. Noch heute kann man unten im alten Hafen Reste von Papierstapeln sehen. Ich sitze dort gerne im Sommer am Strand und lasse die hellen Nächte vorbeigleiten. Das hat beinahe was Magisches.«
»Das klingt schön«, sagte Nyström. »Es ist mir schon peinlich, wie wenig ich mich nördlich von Stockholm auskenne.«
Sie überquerten einen großen Fluss, der viel Wasser führte. Die Luft, die zum offenen Autofenster hineinströmte, war anders als in Småland, frischer, fand sie, vielleicht sogar wilder, wenn man so etwas über Luft überhaupt sagen konnte. An einer Kreuzung bremste Raipanen und wies sie auf Kratzspuren an einem Fichtenstamm hin.
»Bären«, sagte er mit seiner trockenen, melodischen Stimme und gab wieder Gas.
5
Forss saß auf der Rückbank und blätterte die Unterlagen durch, die ihnen die Norrländer zur Verfügung gestellt hatten. Die Tote, Frederika Hakelius, war eine erfolgreiche Unternehmerin gewesen, die mit ihrer Familie in Skellefteå gelebt und dort eine namenhafte Werbeagentur betrieben hatte. Zu ihrem Kundenkreis gehörte unter anderem eine Möbelfirma, ein Erstligaeishockeyteam sowie das Regionalbüro einer großen Partei. Ihre Firma erzielte einen Umsatz von mehr als 30 Millionen Kronen pro Jahr und zählte siebzehn Angestellte. In der Nähe von Norsjö hatte die Familie Urlaub gemacht, sie besaß dort ein Sommerhaus. Die Eltern ihres Mannes Peter, eines Bauingenieurs, stammten aus der Gegend. Die Kinder waren elf und dreizehn Jahre alt. Forss versuchte, die Informationen zu verarbeiten. Mit dem in Einklang zu bringen, was sie über Dahlin und Andersson wusste. Nach Überschneidungen zu suchen. Einem verbindenden Element. Dem vielbeschworenen Missing Link. Wenn es denn überhaupt einen gab und der Tod von Hakelius tatsächlich in Zusammenhang mit den
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