Rotwild: Der zweite Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss (German Edition)
alten Gefallens bei einem ehemaligen Studienkollegen und Exliebhaber.
Ja, sie war Ann-Vivika dankbar gewesen.
Ja, sie hatte eine immense Erleichterung gespürt.
Ja, sie hatte sogar einen Weg gesehen, endlich mit Anders sprechen zu können – nach der Untersuchung.
»Wir sind gleich da«, sagte Raipanen.
»Wer hat sie gefunden?«, fragte Forss.
»Der Schwiegervater. Sie ist vor dem Abendessen von der Hütte durch das Wäldchen zum Auto gegangen, um eine Tasche mit Büchern zu holen, die sie am Nachmittag vergessen hatte. Als sie nach einer halben Stunde nicht zurückkam, machten sich die anderen Sorgen. Der Schwiegervater ist dann losgegangen, um nach ihr zu sehen, und hat sie gefunden. Er steht unter Schock, wir haben ihn ins Krankenhaus gebracht. Seine Frau ist mit den beiden Enkelkindern in der Stadtwohnung. Nur Frederikas Mann ist noch hier. So, da vorne ist es.«
Wieder hatte sich das Licht verändert. Die Bäume standen dicht, Eichen, Eschen, junge Birken. Flechten bedeckten die Stämme wie Ausschlag, in seltsamen Farben: Rosa, Hellblau, mattes Grün. Nyström blieb stehen. Sie schloss die Augen, massierte mit beiden Händen ihr Gesicht, ihre Schläfen. Dann sah sie hinauf. Es war ganz anders als auf dem Foto. Ein Foto ist ein Foto. Aber das hier war echt. Das hier war wirklich da.
Der Körper hing zwischen zwei geneigten Bäumen gespannt, hoch über ihren Köpfen. Er war aufgerissen, vom Schritt bis zur Mitte des Bauches. Die Beine waren grotesk auseinandergespreizt, Darmschlingen hingen herunter, Organe. Der Oberkörper war in einem unnatürlichen Winkel nach vorne gekippt, die hängenden, blutgetränkten Haare verbargen das Gesicht.
Nyströms Magen pumpte Säure nach oben, sie schmeckte Erbrochenes in ihrem Mund, aber es gelang ihr, es wieder herunterzuschlucken.
Ihr Hals brannte.
Ihr Herz brannte.
Ihr Hirn stand in Flammen.
»Oh, Fuck«, sagte Forss.
Das Gesicht der kleinen Frau glänzte vor Schweiß.
»Der Täter hat es genau wie in der Legende von der heiligen Korona gemacht«, hörte sie Raipanens Stimme. »Nur, dass er statt Palmen Eschen verwendet hat. Extrem stark, extrem biegsam. Die Spurensicherung sagt, es muss alles seit Langem vorbereitet gewesen sein. Er hat Ösen mit Schraubgewinden im Boden versenkt, sodass er die beiden Bäume mithilfe von Seilwinden weit genug herunterbiegen konnte. Spitze an Spitze, bis auf den Boden. Eine Spannkraft, die dem eines mittelalterlichen Katapults entspricht. Er musste dann nur noch auf sein Opfer warten. Er hat sie in einem günstigen Moment überwältigt und an die Baumwipfel gefesselt. Je ein Bein an einen der zwei Bäume. Dann hat er die Haltevorrichtung gelöst, sodass die Eschen hochgeschnellt sind. Wie gesagt, es sind starke, biegsame Bäume.«
Er winkte den Männern in den Overalls auf dem Hubsteiger zu.
»Ihr könnt sie jetzt herunternehmen.«
Dann wandte er sich wieder Nyström und Forss zu.
»Ich denke, es war wichtig, dass ihr das gesehen habt.«
7
Peter Hakelius war ein Mann mit eckigem Körper und weichem Gesicht. Er saß in der Küche des Ferienhauses an einem Tisch und hatte ein Glas Wasser vor sich. Von ihrem Eintreten schien er keine Notiz zu nehmen. Forss wunderte sich, dass Hakelius in einer mit Ausrüstung bestückten Anglerweste dasaß. Die federbewehrten Haken und Spinner, die bunten Wobbler und Blinker an der Brust des Mannes wirkten fehl an diesem Ort, in dieser Situation. War Hakelius etwa am Morgen nach dem Tod seiner Frau fischen gewesen? War das tatsächlich seine Art, mit der Trauer, mit dem Schock umzugehen? Dann begriff Forss: Der Mann saß noch in denselben Sachen dort, die er am Vorabend getragen hatte. Er hatte sich nicht umgezogen, wahrscheinlich hatte er noch nicht einmal geschlafen. Er saß dort still und seine derbe Hand umfasste das Wasserglas. Als er schließlich aufsah und die drei Polizisten zur Kenntnis nahm, erkannte Forss seinen Blick wieder. Auch Sara Saale hatte so geschaut. Und viele andere Angehörige von Ermordeten, denen Forss im Laufe der Jahre begegnet war.
Menschen, die zu begreifen beginnen, wie unwiederbringlich ihr Verlust ist.
Verlorene.
Seelen aus Holz.
Raipanen stellte Nyström und Forss vor. Hakelius nickte ihnen vage zu, dann war sein Blick wieder auf das Wasserglas gerichtet. Oder zurück, nach innen, in eine glückliche Vergangenheit. Oder in eine Zukunft, die niemals kommen würde. Sie setzten sich zu Hakelius an den Tisch. Es war ein schöner teurer Tisch. Eine weiße
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