Roulette des Herzens
Mr. Cravens Privaträumen und schrieb an seinem großen Mahagonischreibtisch. Das stattliche Möbel mit den unzähligen Gefachen und kleinen Schubladen war übersät mit allerlei Krimskrams. Ein solches Durcheinander hätte sie bei einem Mann, der sein Leben derart pedantisch organisierte, nicht erwartet. Sie verspeiste den letzten Keks, und ihr Blick fiel auf einige Zettel, die auf einer Ecke des Schreibtisches lagen… Neugierig griff sie nach den zusammengefalteten Notizen.
Abrupt hielt sie inne und tadelte sich im stillen, weil sie beabsichtigt hatte, Mr. Cravens Privatsphäre zu verletzen.
Wieder beugte sie sich über das Manuskript und tauchte behutsam den mit einem Elfenbeingriff versehenen Federkiel in das Tintenfass. Sie war jedoch nichtimstande, den Gedankenfaden wieder aufzunehmen.
Angelegentlich grübelte sie darüber nach, was die geheimnisvollen Notizen beinhalten mochten. Sie legte die Feder hin und starrte sehnsüchtig die Zettel an. Ihr Gewissen und ihre Neugier lagen miteinander im Widerstreit. Leider gewann die Neugier die Oberhand. Rasch nahm Sara die Notizen an sich.
Die erste Notiz war eine Liste von Aufgaben. Zuoberst stand Mr. Worthys Name.
Worthy,
ersätzen Sie die Täppiche in den Spiehlzimmern 2 und Kein Kredit für Lords Faxton und Rapley, bis die Ausstenstende reguliehrt sind. Gill soll eine Kostprope von der nechsten Kognacliefferung nehmen.
Sara empfand Mitgefühl, als sie auf die mühsam hingekritzelte Nachricht blickte. Mr. Cravens Orthographie war eine Katastrophe. Andererseits war mit seinen Rechenkünsten alles in Ordnung. Bei einigen Gelegenheiten hatte Sara ihn dabei beobachtet, wie er im Kopf Zahlen mit verwirrender Geschwindigkeit multiplizierte und dividierte und mühelos mit Wetteinsätzen und Prozentsätzen jonglierte. Er konnte bei, einem Spiel zusehen, die ausgespielten Karten im Kopf behalten und mit unfehlbarer Sicherheit das gewinnende Blatt voraussagen. Er ging die Rechnungsbücher durch und rechnete die Zahlenkolonnen zusammen, ohne je nach einem Federkiel zu greifen.
Ein weiteres seiner Talente war ebenso ungewöhnlich. Er hatte die offenkundige Fähigkeit, Menschen gut einzuschätzen. Er konnte untrüglich den wunden Punkt bei jemandem herausfinden und mit einer beiläufigen Bemerkung aufspießen. Mit wachem Blick registrierte er jede Nuance in der sich verändernden Miene eines Menschen und in dessen Tonfall. Überrascht hatte Sara festgestellt, dass er ein ebenso guter Beobachter war wie sie und zwischen sich und dem Rest der Welt eine Distanz sah. Zumindest war das etwas, das sie, wie sie meinte, mit ihm gemein hatte.
Sie nahm die zweite Notiz an sich und blickte auf die elegante, verschlungene und verschnörkelte Handschrift einer Frau. Die Nachricht war kurz, irgendwie abrupt, und erzeugte ihr ein Frösteln:
Jetzt trägst Du das Zeichen, das ich Dir verpassen ließ, und jeder kann es sehen. Komm und räche Dich, falls Du es wagst. Ich will Dich noch immer. J
»Oje!« äußerte Sara leise und starrte den schwungvoll hingeschriebenen Buchstaben an. Sie zweifelte nicht daran, dass das Wort ›Zeichen‹ sich auf den Schmiss bezog, den man Mr. Craven quer über das Gesicht beigebracht hatte. Welche Art Frau würde dafür zahlen, dass einem Mann das Gesicht verunstaltet wurde? Wie konnte Mr. Craven sich mit einer solchen Person einlassen? Langsam legte Sara die Nachrichten zurück, nicht gewillt, noch mehr zu sehen. Vielleicht empfand diese »J« eine Art verkorkster Liebe zu Mr. Craven, in die sich Hass mischte.
Vielleicht empfand er das gleiche für diese Frau.
Es fiel Sara, für die Liebe stets eine sanfte und tröstliche Gefühlsregung gewesen war, schwer zu begreifen, dass solche Empfindungen für andere Menschen manchmal etwas Dunkles, Primitives, Gemeines beinhalteten. Es gab so viele Dinge, die sie nicht wusste. Sie nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. Was ihre Stimmungen betraf, war Mr. Kingswood stets hilflos gewesen. Für ihn gab es so gut wie keinen Grund, warum jemand sich für etwas außerhalb von Greenwood Corners interessieren sollte. Sie hatte gelernt, ihre gelegentlichen Enttäuschungen vor ihm zu verbergen, denn sonst hätte er ihr einen seiner üblichen Vorträge gehalten und ihr gesagt, sie habe vernünftig zu sein.
Ihre Gedanken wurden durch ein Geräusch an der Tür unterbrochen. »Was machen Sie in meiner Wohnung?«
Sie drehte sich um und errötete. Mr. Craven stand auf der Schwelle, und sein gebräuntes Gesicht
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